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[Migrationsrecht] Progin-Theuerkauf / Grenzkontrollen und Einreiseverbote freizügigkeitsberechtiger Personen in Zeiten von COVID-19

Die hohe weltweite Mobilität hat entscheidend zur Ausbreitung des neuartigen Coronavirus SARS-CoV2 geführt, das die Krankheit COVID-19 auslöst.

Als Reaktion auf die rasche Ausbreitung von SARS-CoV2 haben zahlreiche europäische Staaten, darunter auch die Schweiz, Grenzkontrollen an den Schengen-Binnengrenzen wieder eingeführt und Einreiseverbote für bestimmte Personengruppen erlassen. Auch die Schweiz hat sich diesen Massnahmen angeschlossen. Eine Liste aktuell bestehender Grenzkontrollen im Schengen-Raum findet sich hier.

Massnahmen an den Schengen-Binnengrenzen sind zu unterscheiden von Massnahmen an den Aussengrenzen, die gegenüber Drittstaatsangehörigen ergriffen werden. Diese sollen hier nicht thematisiert werden. Der folgende Beitrag analysiert in diesem Sinne lediglich die Frage, ob die Wiedereinführung von Grenzkontrollen im Schengen-Raum rechtmässig ist. In einem zweiten Schritt soll die Frage, inwiefern Einreiseverbote für EU-Bürger und ihre Familienangehörigen rechtlich zulässig sind, untersucht werden.

Wiedereinführung von Kontrollen an den Binnengrenzen

Der Schengener Grenzkodex (SGK) von 2016 sieht drei Möglichkeiten vor, Grenzkontrollen vorübergehend wieder einzuführen.

  1. Art. 25 und 26 SGK erlauben im Falle einer schwerwiegenden Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen für bestimmte Zeit. Die Binnengrenze wird dann wie eine Aussengrenze behandelt (Art. 32 SGK). Für die Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den Binnengrenzen ist ein spezielles Verfahren vorgesehen (Art. 27 SGK).
  2. Bei einer ernsthaften Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit in einem Mitgliedstaat, die sofortiges Handeln erforderlich macht, kann sich dieser auf Art. 28 SGK berufen. Der Artikel erlaubt es, für einen Zeitraum von zehn Tagen (insgesamt aber maximal zwei Monate) sofort wieder Kontrollen an den Binnengrenzen einzuführen. Das durchzuführende Verfahren ist schneller (Art. 28 Abs. 2 SGK).
  3. Schliesslich erlaubt Art. 29 SGK im Falle aussergewöhnlicher Umstände, unter denen das Funktionieren des Raums ohne Kontrollen an den Binnengrenzen insgesamt gefährdet ist, die Wiedereinführung von Grenzkontrollen. Dies gilt allerdings nur für sechs Monate und kann höchstens dreimal um je weitere sechs Monate verlängert werden (maximal zwei Jahre).

Der Grundsatz der Verhältnismässigkeit ist zu wahren (Art. 25 Abs. 1 und 26 Abs. 1 SGK).

Rechtmässigkeit von Kontrollen

Die Schengen-Mitgliedstaaten, darunter auch die Schweiz, haben sich bei der Wiedereinführung ihrer Grenzkontrollen entweder auf Art. 25 oder auf Art. 28 SGK berufen. Dann müsste eine «schwerwiegende» (Art. 25 SGK) oder eine «ernsthafte» (Art. 28 SGK) Bedrohung der öffentlichen Ordnung oder inneren Sicherheit vorliegen, wobei aufgrund der Systematik von Art. 25 und Art. 28 davon auszugehen ist, dass eine «ernsthafte» Bedrohung schlimmer ist, als eine «schwerwiegende».

Die öffentliche Gesundheit ist auf den ersten Blick kein Motiv, das die Wiedereinführung von Grenzkontrollen erlaubt. Allerdings kann man den Gesundheitsschutz der Bevölkerung unter den Schutz der öffentlichen Ordnung oder der inneren Sicherheit subsumieren, da er Grundinteressen der Gesellschaft berührt.

Schwieriger zu beurteilen ist die Verhältnismässigkeit, da die Situation von Land zu Land unterschiedlich zu beurteilen ist: Werden die Grenzkontrollen zu einem sehr frühen Zeitpunkt der Ausbreitung des Coronavirus angeordnet, so könnten Zweifel an ihrer Angemessenheit aufkommen. Werden diese zu spät angeordnet, ist an ihrer Geeignetheit zu zweifeln. Ist das Virus in einem Land bereits stark verbreitet, werden die Grenzkontrollen ihren gewünschten Effekt wohl nicht mehr erreichen können. Auch die Dauer der Grenzkontrollen, die teilweise bis August oder sogar bis Oktober (Frankreich) oder November (Dänemark) angeordnet wurden, lässt Zweifel an der Verhältnismässigkeit aufkommen. Eine regelmässige Evaluation der Lage sollte unbedingt erfolgen und die Grenzkontrollen ggf. wieder aufgehoben werden. Eine Durchführung bzw. Fortsetzung von Kontrollen aus anderen Gründen bleibt den Mitgliedstaaten unbenommen.

Rechtmässigkeit von Einreiseverboten

Einreiseverbote, wie sie die Schweiz aktuell in Bezug auf EU-Bürger verhängt hat, die keine Aufenthaltserlaubnis L, B oder C besitzen oder Grenzgänger sind, die aus beruflichen Gründen in die Schweiz einreisen, sind am Massstab von Art. 5 Anhang I des Freizügigkeitsabkommens (FZA) zu messen, der die Einschränkung der durch das Abkommen eingeräumten Rechte nur durch «Massnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind» erlaubt. Bei diesen Begriffen handelt es sich um Begriffe des Unionsrechts, für die nach Art. 16 Abs. 2 FZA die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vor Unterzeichnung des FZA zu berücksichtigen ist. Der Begriff der öffentlichen Gesundheit findet sich in als Rechtfertigungsgrund für Grundfreiheiten des AEUV in Art. 36, 45 Abs. 3 und 52 AEUV sowie in Art. 29 der Unionsbürgerrichtlinie (die ansonsten aber nicht für die Schweiz gilt). Er wurde durch den Gerichtshof bereits vor Unterzeichnung des FZA in zahlreichen Urteilen hinreichend geklärt. Als Krankheiten, die eine die Freizügigkeit beschränkende Maßnahme rechtfertigen, gelten ausschliesslich die Krankheiten mit epidemischem Potenzial im Sinne der einschlägigen Rechtsinstrumente der Weltgesundheitsorganisation und sonstige übertragbare, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten, sofern gegen diese Krankheiten Massnahmen zum Schutz der Staatsangehörigen des Aufnahmemitgliedstaats getroffen werden. COVID-19 gehört zu diesen Krankheiten mit epidemischem Potenzial.

Zudem muss aber auch hier der Grundsatz der Verhältnismässigkeit gewahrt werden. Einreiseverbote gehen deutlich weiter, als Grenzkontrollen. Sie sind daher auch rechtlich problematischer, vor allem, wenn sie – neben den blossen Freizügigkeitsrechten des FZA – auch noch in Grundrechte eingreifen, wie in das Recht auf Familienleben. Hier ist insbesondere anzumerken, dass wohl insgesamt mildere Massnahmen zur Verfügung stehen, nämlich in Form von Quarantäneauflagen und medizinischer Kontrolle durch Tests. Insofern bestehen also berechtigte Zweifel an der Rechtmässigkeit der Einreiseverbote.

Innerhalb der EU gelten die o.g. Bestimmungen der Grundfreiheiten und der Unionsbürgerrichtlinie direkt, so dass eine Beurteilung zum gleichen Schluss kommt.

Fazit

Einreisekontrollen in Zeiten von COVID-19 sind rechtlich zulässig, solange sie verhältnismässig sind, d.h. die Verbreitung der Krankheit (noch) wirksam bekämpfen können. Einreiseverbote hingegen erscheinen unverhältnismässig, wenn sie freizügigkeitsberechtigte Personen treffen. Hier gibt es mit Quarantäne und medizinischen Untersuchungen mildere Mittel, die den Zweck, die Ausbreitung des Virus zu verhindern, ebenfalls erreichen können. Dies gilt umso mehr im grundrechtsrelevanten Bereich, d.h. insbesondere im Bereich des Familiennachzugs.

Prof. Sarah Progin-Theuerkauf, Universität Fribourg

 

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