Jusletter Coronavirus-Blog

[Gesundheitsrecht] Gerber / Covid-19-Verordnung besondere Lage (Maskentragpflicht; Homeoffice-Empfehlung), Änderung vom 18. Oktober 2020 (Inkrafttreten am 19. Oktober 2020)

Gedanken zum möglichen Rechtsweg

Die Covid-19-Pandemie wird voraussichtlich noch einige Zeit dauern. Daher ist es wichtig, dass sich eine möglichst etablierte Praxis zum Rechtsschutz gegen (hier einzig interessierende) bundesrätliche Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie herausbildet. Der Autor macht hierzu anhand der Covid-19-Verordnung besondere Lage (Maskentragpflicht; Homeoffice-Empfehlung), Änderung vom 18. Oktober 2020 (Inkrafttreten am 19. Oktober 2020) (Covid-19-Verordnung besondere Lage [Stand 19. Oktober 2020]) Vorschläge und plädiert für die Bereitschaft, gewisse «juristische Experimente» einzugehen.

1. Aktuelle Änderung der Covid-19-Verordnung besondere Lage (Stand 19. Oktober 2020)

Der Bundesrat hat an seiner ausserordentlichen Sitzung vom 18. Oktober 2020 die Covid-19-Verordnung besondere Lage1 geändert: So gilt ab 19. Oktober 2020 für alle öffentlich zugänglichen Innenräume sowie für alle Zugangsbereiche des öffentlichen Verkehrs schweizweit eine Maskenpflicht, also zum Beispiel in Restaurants, Geschäften oder Theatern sowie in Bahnhöfen, Flughäfen oder an Bus- und Tramhaltestellen. Zudem sind ab 19. Oktober 2020 spontane Menschenansammlungen von mehr als 15 Personen im öffentlichen Raum verboten. Für alle privaten Veranstaltungen mit mehr als 15 Personen gilt eine Maskenpflicht. Es darf nur sitzend konsumiert werden und die Kontaktdaten aller teilnehmenden Personen müssen erfasst werden. Auch in allen Restaurations- und Unterhaltungsbetrieben darf nur noch sitzend konsumiert werden.2

2. Überlegungen zum Rechtsweg

Was kann eine interessierte Person unternehmen, wenn sie mit dem Regelungsgegenstand der neuen Covid-19-Verordnung besondere Lage (Stand 19. Oktober 2020) nicht einverstanden ist?3 Im Folgenden wird dazu mit Fokus auf formelle Fragen eine Gedankenskizze präsentiert, auf die, mutatis mutandis, generell und für künftige bundesrätliche Covid-19-Verordnungen zurückgegriffen werden könnte.

Verordnungen des Bundesrats als generell-abstrakte Rechtsnormen des Bundes können von den Rechtsanwendungsbehörden im Rahmen einer abstrakten Normenkontrolle nicht überprüft werden.4 Als Massnahmen im Bereich der inneren und äusseren Sicherheit – z.B. bei Pandemien wie die gegenwärtige Covid-19-Pandemie – sind sie grundsätzlich auch einer akzessorischen Normenkontrolle durch das Bundesverwaltungsgericht nicht zugänglich. Ausgenommen sind Fälle, in denen das Völkerrecht einen Überprüfungsanspruch einräumt.5 Diesfalls kann gestützt auf Art. 6 Ziff. 1 EMRK6 ausnahmsweise ans Bundesverwaltungsgericht und anschliessend, gestützt auf Art. 83 Bst. a BGG7, ans Bundesgericht gelangt werden.8 Zu diesem Zweck ist der betroffenen Person vom zuständigen Departement «durch Erlass einer Verfügung eine Rechtsschutzmöglichkeit» zu eröffnen.9 Das gilt auch im Zusammenhang mit unselbständigen sowie direkt in die Rechtsstellung der betroffenen Person eingreifenden Verordnungen10 und ist – wie sogleich zu vertiefen ist – folglich auf die hier interessierende, gestützt auf Art. 6 Abs. 2 EpG11 erlassene Covid-19-Verordnung besondere Lage (Stand 19. Oktober 2020) übertragbar.

Doch wie erlangt die interessierte Person das notwendige Anfechtungsobjekt im Einzelfall, das für die akzessorische Normenkontrolle der Covid-19-Verordnung besondere Lage (Stand 19. Oktober 2020) erforderlich ist?

Auch wenn einzelne bundesrätliche Verordnungsbestimmungen ausnahmsweise individuellen Charakter haben und deshalb als sogenannte Allgemeinverfügung (selbständig) als anfechtbar betrachtet würden, käme eine direkte Anfechtung nicht in Frage, zumal gegen solche Allgemeinverfügungen des Bundesrats eine Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht ohnehin unzulässig wäre (Art. 33 VGG12 e contrario).13

Somit ist eine andere Herangehensweise zu wählen: Eingriffe in die durch die EMRK geschützten Rechte erfolgen in der Regel nicht durch Rechtssätze, sondern erst durch die gestützt auf diese getroffenen Verfügungen. Ausnahmsweise kann eine Person unmittelbar von einem Rechtssatz betroffen sein. Dies ist der Fall, wenn das Gesetz den Behörden kein Ermessen in der Anwendung belässt und derart konkret ist, dass es ohne weiteres das Verhalten der betroffenen Person bestimmt.14

Die bundesrechtlichen Neuerungen in der Covid-19-Verordnung besondere Lage (Stand 19. Oktober 2020) greifen in verschiedener Hinsicht in durch die BV und die EMRK geschützte Grundrechte ein. So tangiert die Covid-19-Verordnung besondere Lage (Stand 19. Oktober 2020) etwa die persönliche Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV15), die Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV) sowie den Schutz der Privatsphäre (Art. 13 BV) der Bürgerinnen und Bürger in verschiedener Hinsicht unmittelbar. Dies betrifft laufend wiederkehrende und kaum vermeidbare Alltagssituationen (Einkaufen [«Kein Essen kaufen ohne Maske»] usw.), öffentliche Veranstaltungen, die vorgeschriebene Körperhaltung beim Essen und Trinken im Restaurant (nur im Sitzen) und die üblichen sozialen Anlässe in den eigenen vier Wänden (Familienanlässe, Kindergeburtstage usw.). Unmittelbar deshalb, weil die geänderte Covid-19-Verordnung besondere Lage (Stand 19. Oktober 2020) den Behörden im bereits erwähnten Sinn kein Ermessen in der Anwendung belässt und derart konkret ist, dass es ohne weiteres und insbesondere ohne Umsetzungsakt das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger bestimmt.

Die Covid-19-Verordnung besondere Lage (Stand 19. Oktober 2020) wirkt sich in den eben beschriebenen Situationen des üblichen sozialen Lebens gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern sofort mit (gemäss Ziffer III) Inkrafttreten am 19. Oktober 2020 um 00.00 Uhr wie eine Allgemeinverfügung aus. Dies betrifft vor allem die Regelungsgegenstände von Art. 3b («Personen in öffentlich zugänglichen Innenräumen von Einrichtungen und Betrieben sowie in Zugangsbereichen des öffentlichen Verkehrs»), Art. 3c («Verbot von Menschenansammlungen im öffentlichen Raum»), Art. 5a («Konsumation von Speisen und Getränken») und Art. 6 («Besondere Bestimmungen für Veranstaltungen mit höchstens 1000 Personen»).

Somit muss gemäss geltender Praxis16 ein (völkerrechtlicher) Anspruch auf eine gerichtliche Beurteilung bestehen. Eine abstrakte Normenkontrolle ist, wie dargelegt, nicht möglich. In solchen Fällen gehen Geschäfte des Bundesrats von Rechts wegen auf das in der Sache zuständige Departement über, soweit Verfügungen zu treffen sind, die der Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht unterliegen (Art. 47 Abs. 6 RVOG17). Da das Eidgenössische Departement des Innern (EDI) gemäss dortiger Kopfzeile für die Redaktion der Erläuterungen zur Covid-19-Verordnung besondere Lage (Stand 19. Oktober 2020) verantwortlich zeichnet,18 ist das EDI für den Erlass der entsprechenden Verfügungen zuständig.

Es kann schliesslich für die Generierung eines Anfechtungsobjektes für die akzessorische Normenkontrolle offensichtlich auch nicht verlangt werden, dass die betroffene Person z.B. die Maskenpflicht bewusst missachtet und so einen rechtswegöffnenden Sanktionsfall provoziert. Denn auf diese Weise erhielte die betroffene Person nur dann Rechtsschutz, wenn sie sich dem (erheblichen) Risiko aussetzt, sich strafbar zu machen.19

Man könnte freilich mit gewissem Recht einwenden, die vom EDI verlangte Verfügung wäre im Ergebnis nichts anderes als eine Feststellung betreffend einen Norminhalt. Eine entsprechende Verfügung wäre nur bei einem konkreten Feststellungsinteresse zu bejahen; also dann, wenn jemand nachweisen kann, dass er mehr als die Allgemeinheit an der individuell-konkreten Klärung einer Frage interessiert ist und darum eine behördliche Feststellung braucht. So betrachtet ist nur der «Spezialadressat» legitimiert zur Ergreifung von Rechtsmitteln. Dies gilt unter Umständen etwa für die Anfechtung einer nur lokal bedeutsamen und mittels Allgemeinverfügung beschlossenen Verkehrsordnung. Vorliegend ist der Fall allerdings anders gelagert. Die erörterten Grundrechtseinschränkungen setzen mit Inkrafttreten der jeweils aktuellen Version der Covid-19-Verordnung besondere Lage für alle Rechtsunterworfenen unmittelbar, schweizweit und materiell gleichermassen ein. Die Unterscheidung zwischen Normaladressaten und Spezialadressaten erübrigt sich insoweit. Vom Erfordernis eines aktuellen Rechtsschutzinteresses kann überdies abgesehen werden, wenn sich die mit der Beschwerde aufgeworfenen grundsätzlichen Fragen jeweils unter gleichen oder ähnlichen Umständen wieder stellen können, ohne dass im Einzelfall rechtzeitig eine gerichtliche Prüfung möglich wäre.20 Mittlerweile überlagert die Covid-19-Verordnung besondere Lage (Stand 19. Oktober 2020) sehr viele alltägliche ausserhäusliche Alltagshandlungen, für welche kaum je einzeln eine rechtswegöffnende Verfügung verlangt werden könnte. Es wäre z.B. aus praktischer Sicht nicht möglich, zeitnah jeden geplanten Gang in einen Laden vorgängig behördlich anzumelden. So oder anders ist wünschenswert, dass die Gerichte die Anforderungen an die Bejahung des individuellen Rechtsschutzinteresses im Zusammenhang mit dem Rechtschutz gegen bundesrätliche Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie präzisieren. Dies setzt aber voraus, dass den Gerichten solche Fälle überhaupt vorgelegt werden.

3. Fazit

Die direkte Anfechtung der Covid-19-Verordnung besondere Lage (Stand 19. Oktober 2020) scheidet nach Gesetz und Rechtsprechung aus. Dies gilt gleichermassen für die Anfechtung der Verordnung an sich (generell-abstrakt) und die Anfechtung einzelner Verordnungsbestimmungen mit individuellem Charakter (Betrachtung als Allgemeinverfügung). Interessierte Bürgerinnen und Bürger könnten jedoch versuchen, vom EDI eine anfechtbare Verfügung zu verlangen über den Regelungsgegenstand insbesondere von Art. 3b, Art. 3c, Art. 5a und Art. 6 Covid-19-Verordnung besondere Lage (Stand 19. Oktober 2020). Der Rechtsweg würde anschliessend zum Bundesverwaltungsgericht und schliesslich zum Bundesgericht führen.

Bundesrätliche Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie haben – bei aller grundsätzlichen Notwendigkeit – erhebliche wirtschaftliche und soziale Auswirkungen. Illustrativ ist hierfür die für die Binnenschifffahrt wirtschaftlich schädliche und unter dem Aspekt der Rechtsgleichheit sehr kritisch zu betrachtende Maskentragpflicht auf Aussendecks von Schiffen (Art. 3a Covid-19-Verordnung besondere Lage [Stand 19. Oktober 2020]), die aber bisher – soweit ersichtlich – keiner gerichtlichen Prüfung unterzogen wurde. Die Covid-19-Pandemie wird voraussichtlich noch einige Zeit dauern. Daher ist es wichtig, dass sich eine möglichst etablierte Praxis zum Rechtsschutz gegen bundesrätliche Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie herausbildet. Dies bedingte aber auch die Bereitschaft, gewisse «juristische Experimente» einzugehen. Dem Autor ist daher bewusst, dass die hier vorgeschlagene Argumentation keineswegs in Stein gemeisselt ist.

Dr. iur. Kaspar Gerber, LL. M., wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) am Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht, Universität Zürich.

  1. 1SR 818.101.26.
  2. 2Bundesrat, Coronavirus: Einschränkungen für private Veranstaltungen, keine öffentlichen Versammlungen von mehr als 15 Personen, ausgeweitete Maskenpflicht und Homeoffice, Medienmitteilung vom 18. Oktober 2020 (https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-80771.html) (alle angegebenen Websites zuletzt besucht am 20. Oktober 2020).
  3. 3Vgl. zum Ganzen Kaspar Gerber, Rechtsschutz bei Massnahmen des Bundesrats zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie, in: sui-generis 2020, S. 249–264 (https://sui-generis.ch/article/view/sg.134); für eine Übersicht über hängige parlamentarische Vorstösse zur Verbesserung des Rechtsschutzes in ausserordentlichen Lagen siehe Schweizerische Vereinigung für Verwaltungsorganisationsrecht (SVVOR), Webinar SVVOR 2020, Gewaltenteilung in ausserordentlichen Lagen – mit einem Blick auf die Corona-Krise und in die Zukunft, 2. September 2020, S. 15 (https://www.weblaw.ch/dam/weblaw_ag/ce/webinar/20200902_corona9/Webinar_Corona-Krise_AS.pdf).
  4. 4Urteil des Bundesverwaltungsgerichts C-1828/2020 vom 4. Mai 2020 E. 2.3 m.w.H. insbesondere auf das Urteil des Bundesgerichts 2C_280/2020 vom 15. April 2020 E. 2.
  5. 5Urteil des Bundesverwaltungsgerichts C-1828/2020 vom 4. Mai 2020 E. 2.3 m.w.H.
  6. 6SR 0.101.
  7. 7SR 173.110.
  8. 8Zwischenentscheid des Bundesverwaltungsgerichts B-998/2014 vom 6. Oktober 2014 E. 4.1 m.w.H.
  9. 9BGE 133 II 450 E. 2.1.
  10. 10Die in der Verwaltungspraxis der Bundesbehörden (VPB) 2007.6 (S. 182–189) (https://www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch/viewOrigDoc/150000055.pdf?ID=150000055) und anschliessend in BGE 133 II 450 beurteilte TalibanV (SR 946.203) wurde vom Bundesrat gestützt auf Art. 2 EmbG (SR 946.231) erlassen. Das Bundesverwaltungsgericht hat in seinem Urteil C-1828/2020 vom 4. Mai 2020 E. 2.1 «en passant» auch die (in der Lehre umstrittene Frage) in dem Sinn beantwortet, dass Art. 7 EpG deklaratorischer Natur ist und nur auf Gesetzesstufe die verfassungsmässige Kompetenz des Bundesrats wiederholt, in ausserordentlichen Situationen ohne Grundlage in einem Bundesgesetz Polizeinotverordnungsrecht zu erlassen. Gestützt auf Art. 7 EpG ergangene Verordnungen des Bundesrats sind demnach materiell Verordnungen nach Art. 185 Abs. 3 BV.
  11. 11SR 818.101.
  12. 12SR 173.32.
  13. 13Als Allgemeinverfügungen gelten Anordnungen, die nicht individuell-konkret, sondern generell-konkret sind, d.h. zwar einen spezifischen Sachverhalt regeln, aber eine unbestimmte Zahl von Adressaten betreffen (zum Ganzen Urteil des Bundesverwaltungsgerichts C-1828/2020 vom 4. Mai 2020 E. 2.5 m.w.H.).
  14. 14VPB 2007.6 E. II 4 m.w.H (https://www.amtsdruckschriften.bar.admin.ch/viewOrigDoc/150000055.pdf?ID=150000055); BGE 133 II 450 E. 2.2 m.w.H.
  15. 15SR 101.
  16. 16Das Bundesverwaltungsgericht hat daher in seinem Urteil C-1828/2020 vom 4. Mai 2020 E. 2.3 die Ausnahmen von der grundsätzlichen Nicht-Anfechtbarkeit, in welchen das Völkerrecht einen Überprüfungsanspruch einräumt, nach der hier vertretenen Auffassung vorschnell als «vorliegend nicht interessierend» qualifiziert.
  17. 17SR 172.010.
  18. 18EDI, Covid-19-Verordnung besondere Lage vom 19. Juni 2020 (SR 818.101.26); Änderung vom 18. Oktober 2020 (Maskenpflicht; private Veranstaltungen; Empfehlungen Homeoffice), Erläuterungen, S. 1 (https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/63311.pdf).
  19. 19«Kann jemand gebüsst werden, wenn er trotz Maskenpflicht keine Maske trägt? Ja. Verstösse gegen die Maskenpflicht können gestützt auf das Epidemiengesetz mit Busse bis 10'000 Franken bestraft werden. Auch fahrlässige Verstösse sind strafbar und können mit Busse bis 5'000 Franken bestraft werden. Die Strafverfolgung ist Sache der Kantone. Die Beurteilung dieser Straftat erfolgt durch die zuständigen kantonalen Behörden (Übertretungsstrafbehörde oder Staatsanwaltschaft). Ein Ladenbesitzer kann selber entscheiden, ob er Anzeige erstatten will; die Polizei hat eine Anzeigepflicht, wenn er bzw. sie mutmassliche Verstösse gegen die Maskentragpflicht feststellen.» (Bundesamt für Gesundheit, FAQ neues Coronavirus,18.10.2020, S. 3, Ziffer 7 [https://www.newsd.admin.ch/newsd/message/attachments/63300.pdf]).
  20. 20Vgl. Urteil des Bundesgerichts 2C_149/2020 vom 23. Juli 2020 E. 1.3.

2 commentaires

  • 1

    Anfechtungsmöglichkeiten: Alternativen und Grenzen

    Die von Dr. Kaspar Gerber aufgezeigte Möglichkeit zum Rechtsweg in Sachen Covid-19-Verordnung besondere Lage scheint mir recht kompliziert und mit Unsicherheiten beladen. Einfacher scheint mir der Rechtsweg über anfechtbare Verfügungen kantonaler Behörden. Dieser führt in jedem Fall in letzter Instanz an das Bundesgericht, weil es um die Anwendung von Bundesrecht geht (Art. 95 Bst. a BGG) und weil keine Ausnahmeregelungen einer Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten entgegenstehen (e contrario Art. 83 BGG). Anfechtungsobjekte in der Form von Verfügungen lassen sich relativ einfach beschaffen. Art. 7 Covid-19-Verordnung besondere Lage sieht Erleichterungen für Veranstalter vor. Über ein Gesuch an die zuständige Kantonale Behörde erhält man eine Verfügung als Anfechtungsobjekt. Da auch private Veranstaltungen im Familienkreis als Veranstaltungen und die Organisierenden Personen als «Organisatoren» gelten, können auch Privatpersonen eine solche Verfügung erwirken, beispielsweise mit dem Gesuch, es seien für den Familienanlass ausnahmsweise 11 Personen zu bewilligen. Im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens können dann auch akzessorisch Rechtsmängel der Covid-19-Verordnung besondere Lage gerügt werden. Weiter haben inzwischen zahlreiche Kantone Verordnungen mit Massnahmen erlassen, die den bundesrechtlichen Massnahmen entsprechen oder über diese hinausgehen. Die Recht- und Verhältnismässigkeit dieser Massnahmen lässt sich durch eine Anfechtung der kantonalen Verordnungen im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle vor dem Bundesgericht überprüfen (Art. 82 Bst. b i.V.m. Art. 95 BGG). Was die von Dr. Kaspar Gerber ebenfalls erwähnte Maskenpflicht betrifft, sollte man sich nicht zu grosse Hoffnungen machen, in einem Rechtsmittelverfahren eine Aufhebung oder Lockerung bewirken zu können. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich (3. Abteilung, 3. Kammer) hat im Urteil AN.2020.00011 vom 22. Oktober 2020 E. 4.5.1 und 4.5.5 überzeugend dargelegt, dass das Tragen von Gesichtsmasken für die Verhinderung der Übertragung des Coronavirus SARS-CoV-2 in grundsätzlicher Weise sowie insbesondere in Einkaufsläden, Einkaufszentren und Märkten geeignet ist und somit die Maskentragpflicht verhältnismässig und zumutbar ist. Die Argumentation des Verwaltungsgerichts ist weitgehend auf alle Innenräume übertragbar. Noch offen ist mithin nur die Frage der Verhältnismässigkeit der Maskentragpflicht im Freien. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich äussert sich im Übrigen auch zur Erfassung von Kontaktdaten in Gastronomiebetrieben und erachtet diese als zulässig und verhältnismässig (E. 4.5.2).

    avatarDaniel Kettiger30 oct. 2020 14:45:53Antworten

  • 2

    Akzessorische Normenkontrolle der Covid-19-Verordnung besondere Lage

    Leser Philipp Kruse, Rechtsanwalt, LL.M. (dessen Name ich mit seinem Einverständnis gerne nenne), hat mir bilateral den zutreffenden Hinweis gegeben, dass Verordnungen, die sich «nur» auf Art. 6 EpG (besondere Lage) abstützen, nicht aber auf Art. 7 EpG, wie gewöhnliche unselbständige Verordnungen mittels akzessorischer Normenkontrolle auf die Verletzung von Bundes- und Verfassungsrecht hin (Art. 95 BGG) überprüfbar sein müssen. Auch Daniel Kettiger hat in seinem hiesigen Blogeintrag vom 30. Oktober 2020, 14:45:53 Uhr, in die gleiche Richtung argumentiert. Diese Frage konnte ich aus Platzgründen im obigen Blogbeitrag vom 21. Oktober 2020 (noch) nicht vertiefen. Gerne nehme ich aber an dieser Stelle den Faden mit punktuellen Ergänzungen auf. Bei unselbständigen Bundesratsverordnungen – wie die Covid-19-Verordnung besondere Lage – prüft das Bundesgericht, ob sich der Bundesrat an die Grenzen der ihm im Gesetz eingeräumten Befugnisse gehalten hat. Soweit das Gesetz ihn nicht ermächtigt, von der Verfassung abzuweichen, bzw. seine Regelung nicht lediglich eine bereits im Gesetzesrecht angelegte Verfassungswidrigkeit übernimmt, beurteilt es auch deren Verfassungsmässigkeit. Wird dem Bundesrat ein sehr weiter Ermessensspielraum eingeräumt, ist dieser für das Bundesgericht verbindlich. Es darf in diesem Fall nicht sein Ermessen an die Stelle desjenigen des Bundesrates setzen, sondern hat sich auf die Kontrolle zu beschränken, ob dessen Regelung den Rahmen der ihm im Gesetz delegierten Kompetenzen offensichtlich sprengt oder aus anderen Gründen gesetz- oder verfassungswidrig ist. Dabei kann es namentlich prüfen, ob sich eine Verordnungsbestimmung auf ernsthafte Gründe stützt oder Art. 9 BV widerspricht, weil sie sinn- oder zwecklos ist, rechtliche Unterscheidungen trifft, für die ein vernünftiger Grund in den tatsächlichen Verhältnissen fehlt, oder Unterscheidungen unterlässt, die richtigerweise hätten getroffen werden sollen. Für die Zweckmässigkeit der angeordneten Massnahme trägt der Bundesrat die Verantwortung; es ist nicht Aufgabe des Bundesgerichts, sich zu deren wirtschaftlichen oder politischen Sachgerechtigkeit zu äussern (BGer-Urteil 1C_576/2016 vom 27. Oktober 2017 E. 3.3 m.w.H.). Wenn diese Grundregeln auf die akzessorische Normenkontrolle der Covid-19-Verordnung besondere Lage übertragen werden, ergeben sich etwa die folgenden ausgewählten, im konkreten Einzelfall zu vertiefenden Argumentationsmuster: Zunächst setzt Art. 6 Abs. 2 EpG dem Bundesrat Grenzen in der Wahl der Coronamassnahmen. Denn der Handlungsspielraum des Bundesrats im Rahmen von Art. 6 Abs. 2 EpG beschränkt sich auf die in den Artikeln 31–38 sowie 40 EpG festgelegten Massnahmen (BBl 2011 365). Je einschneidender die mit der Covid-19-Verordnung besondere Lage ergriffenen Coronamassnahmen nach den Artikeln 31–38 sowie 40 EpG in der jeweils konkreten Ausgestaltung sind, desto «dünner» wird hierfür die Rechtsgrundlage von Art. 6 Abs. 2 EpG (vgl. dazu auch Kaspar Gerber, «Circuit Breakers», in: Jusletter Coronavirus-Blog vom 21. Oktober 2020). In diesem Zusammenhang darf nämlich nicht vergessen werden, dass die besondere Lage nach Art. 6 EpG für die epidemiologische Gefahrenlage in der Grössenordnung von einer moderaten Influenzapandemie, von H1N1 oder von SARS ausgelegt ist (BBL 2011 363; BAG, Faktenblatt, Normale, besondere und ausserordentliche Lage, 28. Februar 2020, S. 2). Diese Pandemien (insbesondere jährlich wiederkehrende, unterschiedlich schwere Influenzapandemien) konnten bisher ohne flächendeckende «Shutdowns» oder gar «Lockdowns» bewältigt werden. Mit der Bekämpfung der erwähnten «Referenzpandemien» der besonderen Lage nach Art. 6 EpG bestehen demnach Erfahrungswerte, die auch für die Eindämmung der Covid-19-Pandemie mutatis mutandis nicht ausser Acht gelassen werden können. Daher impliziert Art. 6 Abs. 2 EpG gerade bei «Massnahmen gegenüber der Bevölkerung und bestimmten Personengruppen» nach Art. 40 EpG eine gewisse Begrenzung der Intensität und der thematischen Breite der Coronamassnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie in der besonderen Lage. Dies dient auch der Abgrenzung zur ausserordentlichen Lage nach Art. 7 EpG bei einer «Worst-Case-Pandemie» (Spanische Grippe 1918) (BBL 2011 363; BAG, a.a.O., S. 2), die selbstredend drastischere Vorkehrungen erfordert als die besondere Lage nach Art. 6 EpG. Art. 40 Abs. 3 EpG konkretisiert das Verhältnismässigkeitsprinzip und sieht vor, dass die Massnahmen nur so lange dauern dürfen, wie es notwendig ist, um die Verbreitung einer übertragbaren Krankheit zu verhindern. Sie sind regelmässig zu überprüfen. Um diese regelmässige Prüfung a priori sicherzustellen, könnte die Ansicht vertreten werden, Art. 40 Abs. 3 EpG erlaube grundsätzlich nur befristete, gestützt auf Art. 6 Abs. 2 EpG erlassene Covid-19-Verordnungen. Dies müsste umso mehr gelten, je länger diese Coronamassnahmen dauern (sollen) und je einschneidender sie sich auf den Lebensalltag der breiten Bevölkerung auswirken (werden). Art. 40 Abs. 3 EpG betrifft auch die wissenschaftliche Evidenz der Entscheidungsgrundlagen. Für die Epidemienbekämpfung ist ein gewisser Schematismus der ergriffenen Massnahmen zweifellos notwendig. Es liegt gegenwärtig allerdings keine ausserordentliche Lage nach Art. 7 EpG mehr vor, in welcher zumindest zu Beginn das behördliche Ermessen aufgrund der «Gefahr im Verzug» sicherlich grösser ist («Chaosbonus») als in der jetzigen besonderen Lage nach Art. 6 EpG mit mehreren Monaten internationaler Erfahrung mit der Bekämpfung der Covid-19-Pandemie. Auch hier ist somit mit zunehmender Intensität und Dauer der Coronamassnahmen generell mehr interdisziplinäre wissenschaftliche Evidenz für ebendiese Coronamassnahmen zu verlangen. Auch Gesamtpakete von Coronamassnahmen (Zugangsbeschränkungen zu gewissen Betrieben, Verhaltensregeln, Maskentragpflicht an verschiedenen Orten usw.), die insgesamt laut offizieller Einschätzung irgendwie «wirken», dispensieren die Behörden je länger je weniger davon, entweder nachzuweisen, dass jede einzelne Coronamassnahme dieses Gesamtpakets einen signifikant positiven Effekt auf die Entwicklung der Covid-19-Pandemie entfaltet, oder zumindest die (erwünschten) Wechselwirkungen der einzelnen Coronamassnahmen zueinander nachvollziehbar aufzuzeigen.

    avatarKaspar Laurenz Gerber6 nov. 2020 11:16:46Antworten

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