Jusletter

Ehe für alle und ihre Verfassungsmässigkeit

  • Autoren/Autorinnen: Isabelle Häner / Livio Bundi
  • Beitragsart: Beiträge
  • Rechtsgebiete: Familienrecht. Eherecht, Grundrechte
  • DOI: 10.38023/bcf0690f-9063-48ae-b330-0105f83f5cf4
  • Zitiervorschlag: Isabelle Häner / Livio Bundi, Ehe für alle und ihre Verfassungsmässigkeit, in: Jusletter 6. September 2021
Am 26. September 2021 steht die Volksabstimmung über die Änderung des Schweizerischen Zivilgesetzbuches an, mit welcher die «Ehe für alle» eingeführt werden soll. Damit sollen auch gleichgeschlechtliche Paare zivil heiraten können. Ausserdem sollen verheiratete Frauenpaare Zugang zur gesetzlich geregelten Samenspende erhalten. In ihrer Verfassungsanalyse gelangen die Autoren zum Schluss, dass die Einführung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare ausschliesslich über den Gesetzgebungsweg als nicht zulässig zu qualifizieren ist. Ebensowenig im Einklang mit der BV steht die Ermöglichung der Samenspende für lesbische (Ehe-)Paare auf Gesetzesstufe.

Inhaltsverzeichnis

  • 1. Ausgangslage
  • 2. Art. 122 BV: Umfassende Gesetzgebungskompetenz des Bundes
  • 3. Derogatorische Kraft der Bundesverfassung
  • 4. Recht auf Ehe und Familie (Art. 14 BV)
  • 4.1. Gegenstand und Funktion
  • 4.2. Die Institutsgarantie im Besonderen
  • 4.3. Der verfassungsrechtliche Ehebegriff
  • 4.4. Der Ehebegriff nach Art. 12 EMRK
  • 5. Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Erweiterung des Rechtsinstituts der Ehe
  • 5.1. Lehrmeinungen zur Einführung der Ehe für alle auf Gesetzesebene
  • 5.2. Auslegung von Art. 14 BV
  • 5.2.1. Verfassungsauslegung – Besonderheiten
  • 5.2.2. Zur Auslegung von Art. 14 BV
  • 5.3. Unabhängigkeit vom Ehebegriff nach Art. 14 BV?
  • 5.4. Fazit: Ehe für alle als Verstoss gegen die Institutsgarantie
  • 6. Verfassungsrechtliche Regelung des Fortpflanzungsverfahrens
  • 7. Zur verfassungsrechtlichen Zulässigkeit der Samenspende für lesbische Paare
  • 7.1. Auslegung von Art. 119 Abs. 2 lit. c BV
  • 7.2. Verhältnis zu Art. 8 Abs. 2 BV im Besonderen
  • 8. Fazit

4 Kommentare

  • 1

    Die Ehe für alle ist gerade NICHT verfassungswidrig!

    Das BJ kommt in seinem Gutachten zu Handen der RK-N zum gegenteiligen Schluss, und zwar dass «der Gesetzgeber durch Artikel 14 BV nicht daran gehindert [wird], sich auf seine zivilrechtliche Gesetzgebungskompetenz zu stützen, um das Rechtsinstitut der Ehe für Personen gleichen Geschlechts zu öffnen». Somit ist es ganz klar möglich, die Öffnung der Ehe für Personen des gleichen Geschlechts auf dem Wege der Gesetzesänderung vorzunehmen; eine Revision der BV ist dafür nicht erforderlich. Im Detail erörtert das Bundesamt für Justiz die Frage in seinem Gutachten „Ehe für alle – Fragen zur Verfassungsmässigkeit“ vom 7. Juli 2016. Neben der BV garantieren auch Art. 12 EMRK und Art. 23 Abs. 2 UN-Menschenrechtspakt II das Recht auf Ehe. Das Grundrecht auf Ehe ist ein Individualrecht und vermittelt den Anspruch, eine Ehe einzugehen und zu leben. Nach alter, traditioneller Anschauung wird unter der Ehe die Verbindung von Mann und Frau verstanden. Der EGMR anerkennt jedoch die Wandelbarkeit des Ehebegriffes und der familienrechtlichen Institute. Der Ehebegriff von Art. 12 EMRK darf deshalb nicht statisch interpretiert werden. Auch in der Schweiz betont die Mehrheit der Lehrmeinungen die Ehefreiheit und hält eine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare mit Art. 14 BV vereinbar. Art. 14 BV lässt somit Raum für einen „stillen Verfassungswandel“. Mit anderen Worten: Die heutige BV schliesst eine Eheöffnung für gleichgeschlechtliche Paare gerade nicht aus, wie dies der vorliegende Artikel weismachen will. Die zahlreichen europäischen Staaten und viele Bundesstaaten der USA, welche die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare bereits seit vielen Jahren geöffnet haben, ebnen den Weg für ein solches neues Rechtsverständnis in der Schweiz. Betreffend Zugang zur Samenspende und Art. 119 BV bin ich diamentral anderer Meinung. Ein Gutachten von Prof. Dr. Andreas R. Ziegler der Universität Lausanne vom Januar 2019 zeigte eindrücklich und sauber auf, dass es für den Zugang zur Samenspende keine Verfassungsänderung bedarf. Dabei ist die Definition des Begriffs der «Unfruchtbarkeit» relevant, wie er als Voraussetzung für die Zulassung zur Samenspende in der BV festgeschrieben ist. Das Gutachten zeigt, dass auch Paare, welche zwar nicht «medizinisch», jedoch konstellationsbedingt unfruchtbar sind, als unfruchtbar im Sinne der Verfassung gelten – entsprechend ist der Begriff auch auf gleichgeschlechtliche Paare anwendbar. Das Gutachten nimmt im Übrigen auch Stellung dazu, dass der Bundesrat und das Bundesamt für Justiz in der weiter zurück liegenden Vergangenheit den Standpunkt vertraten, für den Zugang zur Samenspende bedürfe es einer Verfassungsänderung. Das Gutachten verweist darauf, dass sich die frühere Haltung auf traditionelle gesellschaftliche Vorstellungen von anfangs der 90er-Jahre stützten und dass diese Auslegung heute überholt ist. Der überwiegende Teil der Lehre vertritt heute die Auffassung, dass aus der BV in keiner Weise ein Verbot fortpflanzungsmedizinischer Verfahren für gleichgeschlechtliche Paare abgeleitet werden kann. Das Gutachten Ziegler kommt zu Recht zum Schluss, dass der heutige Ausschluss von Frauenpaaren von der Samenspende lediglich auf einfachem Gesetzes- recht beruht und entsprechend auch ohne Verfassungsänderung angepasst werden kann. Da die Öffnung der Ehe eine tatsächliche Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Paaren mit verschiedengeschlechtlichen Paaren zum Ziel hat, gibt es keinen Grund, Frauenpaare weiter von der Samenspende auszuschliessen und die diskriminierenden Regelungen beizubehalten.

    avatarAnne-Sophie Morand06.09.2021 16:03:54Antworten

  • 2

    Unangebrachte Abstimmungspropaganda

    Ich finde es politisch nicht opportun und halte es für verfehlt, diesen Artikel 2 Wochen vor der Abstimmung über die Ehe für alle zu publizieren. Jusletter erlaubt damit der Gegnerschaft der Ehe für alle, einseitige Abstimmungspropaganda zu betreiben. Dies mit einem Gutachten, das die AutorInnen in ähnlicher Form - nota bene für die Gegnerschaft der Ehe für alle - bereits vor mehr als einem Jahr verfasst haben (Gutachten vom 31.07.2020)

    avatarNadja Herz06.09.2021 20:14:50Antworten

  • 3

    Kindeswohl

    In Familienrechtlicher Literatur sowie in vielen Artikeln des ZGB findet sich das angesprochene Kindeswohl. Hat im Falle der Annahme der Ehe für Alle das "erzeugte" Kind mittels Samenspende das Recht, dessen Vater kennenzulernen wenn es den Wunsch äussert? Dies ist ein entscheidender Faktor, denn ein Kind kann nicht selber entscheiden ob es ohne Vater (oder ohne Mutter bei schwulen Ehepartner) aufwachsen will. Es geht in der Diskussion mehrheitlich um die Rechte der gleichgeschlechtlichen Paare, jedoch wird dabei das Wohl des Kindes in den Hintergrund gedrängt. Will ein Kind ohne Vater aufwachsen? Will ein Kind seine Mutter kennenlernen? Dies sind Rechte, die man einem Kind ohne wenn und aber wegnimmt, sei es denn so dass es den Zugang zum Spender oder der leiblichen Mutter z.B. nicht vor erreichtem 18. Lebensjahr erhält.

    avatarCaroline Liechti07.09.2021 18:35:14Antworten

  • 4

    Die Ehe für alle fördert im Gegenteil das Kindeswohl! Unterschiedliche Familienentwürfe und Familienmodelle sind heutzutage längst Realität und fester Bestandteil unserer Gesellschaft. Gleichgeschlechtliche Paare sind genauso gute Eltern wie heterosexuelle Paare. Die «Ehe für alle» ermöglicht verheirateten Frauenpaaren den Zugang zu Samenbanken in der Schweiz und die damit verbundene originäre Elternschaft beider Frauen. So haben die Kinder von Geburt an zwei Elternteile. Das ist ein grosser Fortschritt: Diese Regelung stellt das Kindeswohl ganz klar ins Zentrum, weil die Kinder so auch beim Tod eines Elternteils rechtlich abgesichert sind. Bis jetzt bestehen grosse rechtliche Unsicherheiten, wenn ein Kind ab Geburt nur eine Mutter hat. Und es gibt nun einmal bis zu 30'000 Kinder in Regenbogenfamilien in der Schweiz - das ist die Realität. Diese Kinder müssen geschützt werden. Das Kindeswohl würde also klar gestärkt werden bei der neuen Regelung. Im Übrigen: Bei Ihrer Argumentation müsste man alle Scheidungen verbieten (ca. 50 Prozent der heutigen Ehen werden heutzutage in der Schweiz geschieden - ist auch eine Realität). Zudem gibt es sehr viel alleinerziehende Eltern und wie bereits erwähnt 30'000 Regenbogenkinder in der Schweiz. Diverse seriöse Studien zeigen auf, dass es diesen Kindern an nichts fehlt. Liebe und Zuneigung zählen für das Kindeswohl!

    avatarAnne-Sophie Morand08.09.2021 18:52:54Antworten

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