Liebe Leserinnen und Leser
«Migrationsrecht»: Seit einigen Jahren hat sich dieser neue Begriff eingebürgert. Migrationsrecht wird heute als Fach an den meisten Schweizer Universitäten unterrichtet. Doch was beinhaltet dieser Begriff? Das Migrationsrecht umfasst nicht nur mehrere traditionelle Rechtsgebiete im Bereich des Verwaltungs- und Verfassungsrechts, namentlich das Ausländerrecht, Asylrecht und Bürgerrecht, sondern berücksichtigt auch die engen Zusammenhänge zwischen diesen Teildisziplinen. Aufgrund der rasanten Entwicklungen im Bestand völkerrechtlicher Normierung grenzüberschreitender Bewegungen, wegen der dynamischen Entwicklung des EU-Rechts im Bereich Personenfreizügigkeit, Asyl, Grenzsicherung und rechtliche Behandlung von Drittstaatsangehörigen, und wegen der grossen Bedeutung menschenrechtlicher Garantien ist dieses Fach auch prädestiniert, Zusammenhänge zwischen den Ebenen des Landesrechts, des Europarechts und des Völkerrechts aufzuzeigen. Das Migrationsrecht umfasst einen grossen Bestand von Gesetzen, Verordnungen, Abkommen und Richtlinien, der – auch aufgrund der politischen Bedeutung der Themen Zuwanderung und Asyl – einem ständigen Wandel unterzogen ist. In den letzten Jahren haben zudem einzelne migrationsrechtsspezifische Themen entweder eine grössere Bedeutung erlangt, wie die Frage nach der Durchführbarkeit von Rückführungen, oder sind überhaupt erst Gegenstand rechtlicher Normierung geworden, wie etwa die Integration der ausländischen Wohnbevölkerung.
Die vorliegende Schwerpunkt-Ausgabe zeigt diese grosse thematische Breite exemplarisch auf. Die Beiträge beschlagen das ganze Spektrum und diskutieren Fragen der globalen Ordnung bis hin zur kantonalen Verwaltungspraxis; neben rechtsphilosophischen Ansätzen finden sich Abhandlungen zu verfahrensrechtlichen Problemen. Olivia Le Fort befasst sich mit der Frage, wie der Begriff des Glaubhaftmachens als Beweismassstab im Asylverfahren genauer umschrieben werden könnte. Mit Menschenrechten von Personen ohne Aufenthaltsrecht in der Schweiz setzen sich die Abhandlungen von Fanny de Weck (das Rückschiebungsverbot aus medizinischen Gründen) und von Stephanie Motz und Seraina Nufer (Rechte von Kindern in Nothilfe) auseinander. Das Thema «Integration von Migrantinnen und Migranten» wird einerseits durch eine Untersuchung der Praxis der Kantone beim Einsatz von Integrationsvereinbarungen beleuchtet (Armin Stähliund Raphael Widmer), andererseits in einem weiteren Sinn durch eine Analyse der EU-Richtlinie betreffend die Rechte von langfristig aufenthaltsberechtigten Drittstaatsangehörigen (Samah Ousmane), ein Instrument, welches die Integration von Migrantinnen und Migranten über eine verbesserte Rechtsstellung erreichen möchte. Mit der Personenfreizügigkeit, deren Bedeutung für das europäische Projekt und dem Bezug zu Kant befasst sich aus rechtsphilosophischer Warte der Beitrag von Johan Rochel. Schliesslich verweist der Aufsatz von Charlotte Sieber-Gasser auf die wenig beachtete Beziehung zum Wirtschaftsvölkerrecht, skizziert die globale Dimension des Themas freier Personenverkehr und fragt nach den Möglichkeiten einer weltweiten schrittweisen Öffnung der Arbeitsmärkte für Migranten und Migrantinnen.
Aus aktuellem Anlass kommentiert zudem Prof. Dr. Astrid Epiney ausführlich den BGE 2C_828/2011 vom 12. Oktober 2012, in welchem sich das Gericht im Zusammenhang mit der Anwendbarkeit der angenommenen Ausschaffungsinitiative (Art. 121 Abs. 3–6 BV) grundsätzlich mit dem Verhältnis von Völkerrecht und Landesrecht im Falle eines Konfliktes zwischen Verfassungsrecht und EMRK äussert.
Meinem Assistenten, lic. iur. Stefan Schlegel, danke ich ganz herzlich. Sein Sachverstand und sein grosser Einsatz hat das Entstehen dieser Schwerpunkt-Ausgabe erst möglich gemacht.
Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, einen spannende Lektüre!
Dr. Alberto Achermann |
Assistenzprofessor für Migrationsrecht Co-Direktor des Zentrums für Migrationsrecht der Universitäten Bern Freiburg und Neuenburg Redaktor Jusletter |