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[Verwaltungsrecht] Trajkova / Verwaltungsrecht in Zeiten von Corona - Problemfelder und Empfehlungen

Inmitten der Covid-19-Krise erscheint das Verwaltungsrecht in der Praxis in diversen neuen Ausgestaltungen, welche den Alltag der Bevölkerung zunehmend vor Fragen stellt. Die Autorin möchte rechtliche Problemfelder der Corona-Massnahmen durch eine Rückbesinnung auf die wesentlichen Grundprinzipien des Verwaltungsrechts allgemein reflektieren und liefert dabei einige praktische Empfehlungen.

1. Einleitung

Besondere Zeiten erfordern besondere Massnahmen. Wie besonders dieses Jahr werden würde, hätte zu Beginn niemand voraussehen können. Die Notwendigkeit des Schutzes der Gesundheit der Bevölkerung hat ein Ausmass erreicht, dass diesem öffentlichen Interesse eine neue Präsenz ermöglicht hat, welche in unseren Kreisen lang nicht mehr so gesehen war.

Ins Zentrum der Massnahmen ─ aus Sicht der Allgemeinheit unabhängig von der jeweiligen Tätigkeit ─ rückt das allgemeine Verwaltungsrecht. Selten kommt es so dominant zu tragen wie jetzt. Die Gesetzgebung in Zeiten der ausserordentlichen Lage1 ist geprägt von einer Dynamik und gleichzeitig Inflexibilität, die ihresgleichen sucht. Angefangen von ständig unterschiedlich zu berücksichtigenden Abstandsregelungen und Modifikationen bei Schutzkonzepten bis hin zu Fragen der Durchführbarkeit von privaten Anlässen oder Besuchen von Menschen in Pflegeinrichtungen: überall zeigen sich die öffentlich-rechtlichen Regelungen, mal streng, mal offen, aber immer in Bewegung.

Auch ist es schwierig den Überblick zu behalten, zumal sich die Vorschriften in verschiedensten Formen und Stufen auf eidgenössischer, kantonaler und teilweise sogar kommunaler Ebene überlagern. Aus Laiensicht, aber auch als Fachperson, ist die rechtliche Verbindlichkeit der einzelnen Anordnungen nicht immer leicht zu erkennen. Entsprechend steigt die Relevanz einer sauberen Rückbesinnung auf die wesentlichen Grundprinzipien, die auch in diesen Zeiten gelten.

In diesem Beitrag sollen überblicksartig grundlegende Aspekte mit Hinweise für den Umgang mit den heutigen Problemen thematisiert werden. In diesem Sinne lassen sich vier Problemkreise zu folgenden Themen bilden: (1) Grundrechtsprüfungen, (2) Verwaltungsverordnungen, (3) rechtliches Gehör und (4) Vertrauensschutz. Diese vier Bereiche sollen im Nachfolgenden kurz erläutert werden. Den Abschluss bilden praktische Handlungsempfehlungen.

2. Modifizierte Grundrechtsprüfungen?

2.1. Ausgangspunkt

Der Grund, weshalb die Massnahmen in Zeiten von Corona als einschneidend wahrgenommen werden, liegt im Umstand, dass es sich mehrheitlich um nicht geringfügige Eingriffe in Freiheitsrechte handelt. Die Massnahmen zum Schutz aller sind vielfältig und teilweise sehr weitgehend, sie können nur ergehen, wenn auf individueller Ebene die Grundrechte des Einzelnen zugunsten der Gemeinschaft zurücktreten. Ausgangspunkt der Betrachtung bildet daher die Beobachtung, dass Corona-Massnahmen mehrheitlich auf die eine oder andere Art Grundrechte tangieren.

Grundrechte, die verfassungsrechtlich geschützt und in der Kultur der Bevölkerung tief verankert sind. Die Selbstverständlichkeit der möglichen maximalen Inanspruchnahme dieser Grundrechte ist geradezu ein Markenzeichen eines heutigen europäisch-demokratisch ausgerichteten Staates geworden. Die ständige Weiterentwicklung der Rechtsprechung auf internationaler, aber auch nationaler Ebene, hat zu einer rechtssicheren Ausgangslage geführt: Atypische, rechtswidrige staatliche Vorgehensweisen werden umgehend kritisch hinterfragt und Eingriffe, die in Konflikt zu Art. 36 BV stehen, konkret ohne gesetzliche Grundlage, öffentliches Interesse und Einhaltung des Verhältnismässigkeitsprinzips ergehen, flächendeckend missbilligt. Einst noch aus dem Polizeirecht herausgebildet, bilden diese drei Teilelemente den Massstab für jegliches staatliches Verhalten insbesondere im Umgang mit Freiheitsrechten Privater.2

2.2 Legalitätsprinzip «light»

So erscheint es nicht weiter verwunderlich, wenn die «Covid-19-Krise» diese hart erkämpfte Errungenschaft vor neue Herausforderungen stellt: Zum einen steht die jetzige Ausnahmesituation etwas in einem Widerspruch zu einem der tragenden Grundprinzipien des schweizerischen Verwaltungsrechts, dem Legalitätsprinzip: Jegliches staatliches Verhalten benötigt eine hinreichende gesetzliche Grundlage (Art. 5 Abs. 1 BV). Erforderlich ist überdies eine Norm, die hinreichend bestimmt ist, um eine Vielzahl Fälle für eine unbestimmte Anzahl an Personen zu regeln (sog. Normdichte).3 Deshalb entstehen gesetzliche Grundlagen in einem aufwändigen politischen Prozess, sie sind das Ergebnis einer längeren Auseinandersetzung, weshalb sie im Anwendungsfall auch meistens eine ausreichende Basis für die Rechtfertigung einer Vielzahl verschiedenartiger staatlicher Eingriffe bieten.

Notrecht4 dagegen ist ─ abseits der Frage seiner demokratischen Legitimation ─ ein Kompromiss, eine Interessensabwägung unter grösstem Zeitdruck zugunsten primärer Rechtsgüter. Dem Entstehungsverfahren von Notrecht fehlt definitionsgemäss die Möglichkeit, eine gewissenhafte rationale Folgenabschätzung vorzunehmen. Die Schaffung von Notrecht ist daher ein Lernprozess nach dem «Trial-and-Error-Prinzip». Notrecht muss, kann aber nicht stets eine qualitativ vergleichbare Normdichte gewährleisten. Normdichte ist nicht mit möglichst vielen differenzierten Normen gleichzusetzen; die Bestimmungen können auch im Notrecht besonders zahlreich und detailliert sein. Gemeint ist das Ergebnis einer sorgfältigen Abwägung zugunsten einer besonderen Formulierung, die geeignet ist, eine Vielzahl von Fällen mit unbestimmter Personenzahl zu erfassen und daher eine gewisse Qualität aufweist.

Kritisch wird man bemängeln, dass «Qualität» relativ ist und auch in den gewohnten Strukturen nicht garantiert werden kann. Dem ist im Grundsatz beizupflichten. Sodann meint «Qualität» hier nicht ein bestimmtes Niveau an Rechtssetzungskunst, sondern schlicht die zeitlich messbare fehlende Auseinandersetzung. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass eine langfristige Auseinandersetzung eher eine vorausschauende generell-abstrakte Regelung schaffen kann, als eine auf den Einzelfall fokussierte, gefahrabwendende Notlösung, die das schlimmste verhindern soll.5 Schon allein die Perspektive zeigt, dass nicht von gleichwertigen Vorschriften gesprochen werden kann.

Aber nicht nur die Normdichte leidet in diesen Zeiten, auch gelten generell Regelungen auf tieferer Normstufe.6 Systembedingt aufgrund des Notrechtscharakters werden für schwere Eingriffe Verordnungen statt formelle Gesetze erlassen oder ganz demokratisch an weniger legitimierte Gefässe delegiert7: So lassen sich die konkreten Rechtsgrundlagen für die jeweiligen Fälle in Form von Allgemeinverfügungen, Weisungen oder gar Merkblättern erblicken. Da sich dieses Problem auch unabhängig von Grundrechtseingriffen stellen kann, wird dazu noch an separater Stelle hingewiesen (siehe «3. .Zur steigenden Relevanz von Verwaltungsverordnungen»).

Gesamthaft betrachtet lautet der summarische Befund, dass ─ historisch wohl auch nachweisbar ─ Krisensituationen mehrheitlich zulasten der Befolgung des Legalitätsprinzips gehen.8 Pointiert könnte von der Geltung des «Legalitätsprinzips light» gesprochen werden. Mit Blick auf die bundesrätlichen Verordnungen ist zumindest hervorzuheben, dass diese zeitlich befristet sind und dann ausser Kraft treten oder in die ordentliche Gesetzgebung mit Anpassungen integriert werden (vgl. Art. 185 Abs. 3 Satz 2 BV). Ihrem notrechtlichen Charakter gemäss sind die allfälligen Unzulänglichkeiten daher grundsätzlich nicht nachhaltig.

2.3 Öffentliches Interesse mit Hochkonjunktur und schwierige Verhältnismässigkeitsprüfungen

Das öffentliche Interesse, konkret der Schutz der Gesundheit der Bevölkerung, erfährt im Vergleich zum soeben geschilderten Legalitätsprinzip gerade Hochkonjunktur. In jeder Massnahme ist die Formulierung «zum Schutz der Gesundheit der Bevölkerung» wiederzufinden. Selten lässt sich so bilderbuchartig ein öffentliches Interesse formulieren, welches im Verständnis der Bevölkerung ein scheinbar so klares Bild hervorruft. Das überrascht: Die meist schwer identifizierbaren, sich aus der Verfassung ergebenden9, öffentlichen Interessen kannten bisher ─ nicht zuletzt wegen ihrer knappen dogmatischen Betrachtung ─ häufig eine stiefmütterliche Behandlung. Gewöhnlich liess sich in Zusammenhang mit Grundrechtseingriffen irgendwo noch ein öffentliches Interesse finden, welches dann die Auseinandersetzung mit der Verhältnismässigkeit für sich entscheiden musste.10

Selbstredend ─ je konkreter, gewichtiger das öffentliche Interesse sich präsentiert, desto besser die Ausgangssituation für die Zulässigkeit des staatlichen Eingriffs. Die erforderliche Stringenz des öffentlichen Interesses ergibt sich aus einer Wertung des auf dem Spiel stehenden Rechtsguts, was nicht unschwer erkennen lässt, weshalb das öffentliche Interesse in diesen Zeiten argumentativ standfest ist. Wer ist schon gegen die öffentliche Gesundheit der Bevölkerung?

Die Problematik beginnt daher mit dem berechtigten Anliegen dem öffentlichen Interesse die notwendige Präsenz zu gewähren: Diese Primärstellung schlägt sich nämlich auf die Bedeutung anderer Grundprinzipien nieder. Allen voran erschwert wird eine anständige Argumentation der Unzumutbarkeit im Rahmen der Verhältnismässigkeitsprüfung. Dieses verlangt bekanntermassen, dass ein staatlicher Eingriff geeignet, erforderlich und zumutbar sein muss.11 Wenn es um den Schutz der öffentlichen Gesundheit geht und dieser zeitlich schnell erforderlich ist, dann ist so manch eine Massnahme geeignet, erforderlich und zumutbar. Einen Anker bildet allenfalls die Frage nach milderen Massnahmen in Relation zu den angeordneten bei der Prüfung der Erforderlichkeit. Doch auch diese Suche erschöpft sich dann in der pauschalen Feststellung, dass keine ersichtlich sind, was in Anbetracht der zeitlichen Komponente auch zutreffen wird.

Das nun beschriebene Spannungsfeld lässt sich insofern entschärfen, dass in Notrechtssituationen andere, funktionsrelevante Staatsprioritäten solche Vorgehensweisen legitimieren. So würde kaum jemand auf die Idee kommen, einer unmittelbar drohenden Abwendung einer Gefahr mit einer Diskussion zu weniger weitgehenden Massnahmen zu reagieren. Doch schon eine leichte Reduktion der Unmittelbarkeit der drohenden Gefahr, beispielsweise mit tiefer werdenden Ansteckungszahlen, zeigt, dass die Bevölkerung durchaus ein Gespür für überschiessende Massnahmen hat und nicht bereit ist, jede unkritisch zu tolerieren. Die Diskussion der verhältnismässigen Massnahme verlagert sich dann aber auf eine andere Ebene, sie wird zu einem Rechtsgleichheitsanliegen i.S.v. Art. 8 BV. Es geht nicht mehr darum, ob für mich und meine Branche eine mildere Massnahme möglich ist, sondern warum meine Branche andere Eingriffe dulden muss, als eine vergleichbare andere. Die Relativität der Rechtsgleichheit lässt gewisse Differenzierungen zwar durchaus zu, die Übergänge für die Abgrenzung der einzelnen Betroffenenkreise wird aber zunehmend fliessender.

3. Verwaltungsverordnungen und ihre steigende Relevanz

Ein weiteres interessantes Feld betrifft die Rechtsnatur und Form der im individuell-konkreten Fall anwendbaren Rechtsgrundlagen. Erfolgt eine Anordnung direkt gestützt auf eine der exekutiv erlassenen Notverordnungen, insbesondere auf Bundesebene, dann ist die Ausgangslage meistens klar und es gibt nicht viel zu diskutieren (abgesehen vom Verhältnis von leicht abweichend lautenden Regelungen auf verschiedenen Stufen, was nicht Thema dieses Aufsatzes sein soll). In der Praxis stützen sich Massnahmen aber nicht selten auf Ausführungsbestimmungen oder Vollzugshilfen mit unterschiedlichen Namen und Verbindlichkeitsstufen. Was sind verwaltungsrechtlich betrachtet die «Musterschutzkonzepte», grafischen Darstellungen zur Einhaltung der Hygiene- und Abstandsregelungen oder die Informationsmails von Schulen «zum weiteren Vorgehen»?

Gewiss ─ behördliche Informationshandlungen und Hilfestellungen sind kein neues Instrument. Soweit man sie gliedern möchte sind sie am ehesten als «Verwaltungsverordnungen», d.h. nur intern verbindliche Anweisungen, häufig betitelt als «Merkblätter», «Empfehlungen» oder «Weisungen» zu verstehen.12 Ihnen ist gemeinsam, dass sie nur in Ausnahmefällen sog. «Aussenwirkungen» erzeugen,13 d.h. auch Private direkt tangieren. Auf die einzelnen Differenzierungen und ausgiebigen wissenschaftlichen Diskurse zu Verwaltungsverordnungen soll an dieser Stelle verzichtet werden, da es weniger darum geht, sie dogmatisch einzuordnen, als ihre praktische Relevanz zu zeigen.

Worauf aber hingewiesen werden soll, ist der Umstand, dass es sich bei all den gut gemeinten und durchaus notwendigen «Erläuterungen» und «Vorgaben» um kein verbindliches Recht handelt. Häufig ist nicht einmal ihre Urheberschaft bekannt. Und doch ergehen gestützt darauf nicht selten Rechtswirkungen: So kann ─ als bewusst plakativ gewähltes Beispiel ─ ein Schutzkonzept als unzureichend eingestuft und die Schliessung eines Betriebs angeordnet werden. Nicht, weil es einer bundesrechtlichen oder kantonalen Norm widerspricht, sondern lediglich nicht die Anforderungen der «Vorgaben» für diverse Branchen entspricht, die z.B. eine bestimmte Quadratur für Personen in einem Raum vorsehen. Oder werden rechtsverbindliche Reglemente gemäss «internem Konzept für die Covid-19 Krise» so ausgelegt, dass es sich dabei um eine komplett neue Regelung handelt.

Die Beispiele demonstrieren: Wenn es schnell gehen muss, dann bekommt so manch ein kurzfristig erstellter behördlicher Entwurf, eine neue Bedeutung. Das ist keineswegs abfällig gemeint; besonders in Krisenzeiten ist jede Hilfestellung wertvoll. Aufgrund der fehlenden Rechtsbeständigkeit, konkret der Dynamik der übergeordneten Rechtsgrundlagen, sammelt sich aber in kürzester Zeit viel an. Quantitativ ist man im Ergebnis mit einer Vielzahl von faktisch «semi-verbindlichen» Dokumenten konfrontiert. Es ist daher nicht weiter überraschend, dass zu beobachten ist, dass die Bevölkerung allgemein und ja sogar Fachkreise, schnell den Überblick verlieren.

4. Rechtliches Gehör und unklare Handlungsformen

In diesem Zusammenhang ist eine weitere Tendenz bemerkbar. Den allgemeinen Grundprinzipien folgend, erfordert grundsätzlich jeder verbindliche Hoheitsakt, dass der betroffenen Person das rechtliche Gehör i.S.v. Art. 29 Abs. 2 BV gewährt wird. Seine tragenden Gehalte sind Gegenstand zahlreicher Publikationen und eine gesellschaftliche Errungenschaft. Um nur wenige Facetten zu nennen, muss die betroffene Person in der Lage sein können, den staatlichen Entscheid nachzuvollziehen (Begründungspflicht), sich zu äussern und angehört zu werden (Äusserungs- und Anhörungsrecht) sowie informiert zu werden und in die wesentlichen Entscheid-dokumente Einblick zu erhalten (Informations- und Einsichtsrecht).14 Es sind stets die direkt betroffenen Personen, denen diese Rechte zukommen, d.h. es geht im Grunde um Individualrechtsschutz.

In diesem Kontext ist ein interessanter Umgang zu beobachten. Scheinbar im Wissen darum, dass einzelne Anordnungen nicht auf rechtsverbindliche Quellen beruhen, ihre Einhaltung aber dennoch im Allgemeininteresse liegt, wird in gewissen Bereichen im Zusammenhang mit dem Vollzug von Corona-Massnahmen pauschal auf die Gewährung des rechtlichen Gehörs verzichtet bzw. als nicht erforderlich erachtet. Als Rechtfertigungsgrund dient auch hier der nicht aufschiebbare Zeitdruck. Ab und zu ist es auch einfach schlichte Unkenntnis, auf beiden Seiten weiss man nicht um seine Rechte und Pflichten.

Das soll nicht heissen, dass die Covid-19-Krise zu systematischen Gehörsverletzungen geführt hat. Das Problem ist viel subtiler: Es ist die Erkenntnis, dass in ziemlich vielen Konstellationen diese Krise gezeigt hat, dass eine Gewährung des rechtlichen Gehörs wünschenswert ist, aber keine rechtliche Verpflichtung dazu besteht. Stossend erscheint exemplarisch, wenn Schülerinnen und Schülern wenige Wochen im Voraus mitgeteilt wird, dass sämtliche, grundsätzlich auf das Jahr verteilte Prüfungen, in einem zwei Wochenturnus nachgeholt werden müssen. Rechtlich ist die Schulbehörde nicht verpflichtet, die Schülerinnen und Schüler anzuhören, da hier nicht individuell-konkret verfügt wird. Auch verfügen Behörden mit Blick auf solche Fragen nicht selten um einen erheblichen Ermessensspielraum, weshalb in solchen Situationen den Schülerinnen und Schülern nur die Hoffnung auf Kulanz bei der Handhabung durch die Schulbehörden bleibt.

Auch bei den generell verhängten, teilweise sehr langen Ausgangssperren in Pflege- und Altersheimeinrichtungen gibt es nicht sonderlich viel zu diskutieren: Wer Teil dieser Einrichtung ist, muss sich an die Regeln halten, sei es, dass sich diese bloss auf eine staatliche Empfehlung stützen. Und dennoch präsentiert sich eine solche Massnahme allenfalls sogar als klassischer Entzug der Bewegungsfreiheit und damit als Grundrechtseingriff, der auf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage, im öffentlichen Interesse und verhältnismässig sein muss. In einem solchen Fall müsste doch die betroffene Person die Möglichkeit haben, sich zu äussern, zu widersetzen oder zumindest eine Begründung zu verlangen, wieso zum Beispiel die Ausgangssperre nicht kürzer ausfallen darf.

In den seltensten Fällen wird es dazu kommen. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass unklar ist, wie der jeweilige Akt zu qualifizieren ist. Handelt es sich um einen Realakt in Vollzug einer bestimmten Norm? Ist es ein generell-konkretes Verbot, also eine Allgemeinverfügung? Ist die individuell-konkrete Anordnung der Ausgangssperre eine formell fehlerhafte, aber materiell beständige Individualverfügung? Die betroffene Person sieht sich schnell überfordert, da sie nicht weiss, was sie gegen eine solche Vorgehensweise tun kann. Erschwerend kommt hinzu, dass die Praxis vielfältig ist und ein und die selbe Massnahme in all diesen Formen vorkommen kann. Die Kantone können klare Regeln vorgeben, müssen es aber nicht. Eine rechtliche Beratung erscheint unter diesen Umständen geradezu unumgänglich. Leider sind die prädestinierten Personen nicht gerade die klassischen Rechtssuchenden, die eine Beratung in Anspruch nehmen können.

5. Rechtsänderungen, Vertrauensschutz und nachträglich fehlerhaft gewordene Verfügungen

Sollte dann einmal eine verbindliche Verfügung vorliegen, dann zirkulieren die Probleme nicht mehr bei der Frage ihrer Rechtsnatur, sondern um ihre Beständigkeit. Verfügungen geniessen den Ruf einer ziemlich vertrauenswürdigen und verlässlichen Vertrauensgrundlage in Hinblick auf eine behördlich «festgestellte» Rechtslage. Auf deren Grundlage unternehmen Private in der Regel weitreichende wirtschaftliche Dispositionen.

Entsprechend gross ist die Unsicherheit, wenn sich das Recht ändert, auf dessen Grundlage die nunmehr rechtskräftig gewordene Verfügung ausgesprochen wurde. Dabei ist nicht immer das Recht selbst, welches die Verfügung aufhebt. Vielmehr kann die Rechtsänderung den Sachverhalt ändern, auf dessen Grundlage die Rechte und Pflichten in der Verfügung begründet wurden. Das formell in der Verfügung Zugesprochene wird kurz nach der nächsten Pressekonferenz des Bundesrats plötzlich «unrichtig», sei es, weil die Voraussetzungen für die Leistung oder die Leistung selbst geändert oder gestrichen wurde.

Schnell wird der Wunsch gross nach einem gewissen Vertrauensschutz. Vertrauensschutz wird gefordert, da ja die kumulativen Voraussetzungen scheinbar vorliegen: Vertrauensgrundlage, berechtigtes Vertrauen, Vertrauensbetätigung und eine Interessensabwägung zugunsten des Vertrauensschutz beanspruchenden Personenkreises.15 Betrübt wird die rechtsanwendende Person dann aber erkennen, dass es keinen Vertrauensschutz mit Bezug auf Rechtsänderungen gibt.16 Mit anderen Worten hat niemand einen Anspruch darauf, dass eine Gesetzeslage so bleibt wie sie gerade ist. Deshalb sind Übergangsbestimmungen in der Praxis von grosser Bedeutung.

Was für einschneidende Konsequenzen dieser Grundsatz mit sich bringt, demonstriert die Corona-Krise eindrücklich: Aufgrund der staatlich angeordneten Betriebsschliessungen wurden zahlreiche Kurzarbeitsentschädigungen per Verfügung befristet ausgesprochen. Die wirtschaftliche Existenz dieser Unternehmen hängt von der Beständigkeit dieser Verfügungen, konkret aus den daraus fliessenden Ansprüchen beispielsweise auf Kurzarbeitsentschädigung, ab. Waren die Voraussetzungen im Zeitpunkt der Prüfung des Gesuchs noch gegeben, kann sich dies mit Blick auf die veränderte Rechtslage ständig ändern. Mit der Folge, dass die Betroffenen mit Existenzängsten konfrontiert werden.

Verwaltungsrechtlich betrachtet ist diese Schlussfolgerung aber keineswegs ein spezifisch corona-bedingtes Phänomenen: Womit die Betroffenen umgehen müssen, sind die Konsequenzen einer nachträglich fehlerhaft gewordenen Verfügung,17 wenn auch mit anders gelagerten Interessenslage: Im Normalfall haben grundsätzlich die Verfügungsadressaten ein Interesse daran, sich gegen eine fehlerhafte Verfügung zu widersetzen. Die Coronafälle zeigen aber, dass es ─ wie bei Dauerverfügungen mit Leistungen zugunsten der Verfügungsadressaten üblich ─ die verfügenden Hoheitsträger sind, welche den Bestand dieser Verfügung anzweifeln müssen. Mit anderen Worten geht es um die Durchsetzung der richtigen Rechtsanwendung.18

Besitzstandsgarantie gibt es aber dennoch in einem gewissen Mass: Das Verhältnismässigkeitsprinzip und die Interessenabwägung bei der Frage eines behördlichen Widerrufs, welcher für eine solche richtige Rechtsanwendung erforderlich ist, gebieten die Interessen der Gegenseite zu berücksichtigen. In Zeiten von Corona wird diesen Interessen ─ ohne zu pauschalisierend zu sein ─ sicherlich hinreichend Gewicht zukommen. Diese Berücksichtigung manifestiert sich darin, dass die Interessensabwägung gegen einen Widerruf ausfallen wird. Die Folge ist, dass die zeitlich befristeten Verfügungen Bestand haben. Daher scheint mit Blick auf diese Krisensituation zumindest temporär ein Vertrauensschutz trotz Rechtsänderungen möglich zu sein. Was von den Existenzängsten bleibt, ist folglich die Ungewissheit, nicht zu wissen wie die verfügende Behörde die Interessenabwägung entscheiden wird.

6. Empfehlungen für die Praxis

Gesamthaft betrachtet ergibt sich folgendes Bild: Die bekannten rechtlichen Instrumenten gewähren durchaus den nötigen Spielraum, um eine verwaltungsrechtlich tragbare Krisenbewältigung zu veranlassen. Rechtsdogmatisch betrachtet hat die aktuelle Ausnahmesituation keine Veränderungen gebracht. Etablierte Mechanismen sehen sich allesamt einfach von einem faktischen Umstand bedroht: Zeitnot. Erforderlich ist folglich neben der Kenntnisse der entsprechenden rechtlichen Instrumente ihre sensibilisierte Handhabung.

In diesem Sinne wird der Versuch gestartet aus den soeben besprochenen «Problemkreisen» einige kondensierte praktische Empfehlungen zu formulieren:

  • Identifikation von hinreichend bestimmten Rechtsgrundlagen: In einem ersten Schritt wird stets eine gewissenhafte Identifikation der jeweiligen massgeblichen Rechtsgrundlage notwendig sein. Das bedeutet zugleich, dass auf «Pauschalisierungen» der Sachverhalte wegen der veränderten Rahmenbedingungen verzichtet werden muss: Es reicht für einen schwerwiegenden Grundrechtseingriff nach geltendem Recht nicht, dass die Massnahme «ungefähr der bundesrätlichen Notverordnung», wie schon von manchen Stellen so erklärt wurde, entspricht. Es muss eine hinreichend bestimmte gesetzliche Grundlage vorliegen, die auf den vorliegenden Fall Anwendung findet. Behörden und Private sind gleichermassen gefordert, der Frage nachzugehen, ob ihr Fall tatsächlich von einer bestimmten Rechtsgrundlage erfasst wird. Das heisst auch Mut zu Lücke: Besonders in Krisenzeiten ist es nicht verwerflich festzustellen, dass auch keine passende Rechtsgrundlage existiert.
  • Prüfung der Verbindlichkeit der Rechtsgrundlagen: Wenn eine einschlägige konkrete Regelung dann in der Folge doch besteht, sei stets auch nach ihrer Verbindlichkeit zu fragen und sich bewusst sein, dass diese unterschiedlich sein kann. Das inkludiert, dass im Namen des öffentlichen Interesses nicht der Vollzug jeder Verwaltungsverordnung geduldet werden muss. Dabei muss dies nicht vorwurfsvoll gegenüber dem Hoheitsträger vorgebracht werden, sondern es reicht eine blosse Nachfrage. Häufig wird man staunen, wie viel Kooperationsbereitschaft von Behördenseiten einem entgegengebracht werden kann, wenn einmal eine gemeinsame Einigung mit Blick auf die Rechtsgrundlagen erfolgt.
  • Nutzung des Verhältnismässigkeitsprinzips als Prüfungsmassstab: Mit Blick auf die Handhabung der einzelnen Massnahmen sind kritische Fragen im Sinne des Verhältnismässigkeitsprinzips gestattet. Gerade in Krisenzeiten sollte die normkorrigierende Wirkung19 des Verhältnismässigkeitsprinzips genutzt werden. Normkorrigierend, weil auch in solchen Zeiten das Verhältnismässigkeitsprinzip die konkreten Rechtsgrundlagen einer weiteren Prüfung unterzieht. Es müssen die wichtigen Fragen gestellt werden. Ist ─ in diesem Sinne ─ mit Blick auf die konkrete Situation die «starre» Anwendung des Reglements X noch verhältnismässig?
  • Notwendigkeit einer ausgewogenen Interessensabwägung: Das schliesst mit ein, auch das Potential einer ordentlichen Interessenabwägung ─ trotz Zeitdruck ─ zu beachten. Welche Interessen stehen auf dem Spiel? Je konkreter die Formulierung, desto sorgfältiger wird die Abwägung ausfallen und damit legitimiert die Eingriffe. Besonders mit Blick auf einen allfälligen Widerruf von Verfügungen sollte diese Prüfung mit einer Gewissenhaftigkeit durchgeführt werden, welche zwar intellektuell höchst anspruchsvoll sein kann, aber deshalb nicht weniger verbindlich ist.
  • Besondere Rolle der Erforderlichkeit: Mit einer stärkeren Gewichtung des Kriteriums der Erforderlichkeit bei einer Verhältnismässigkeitsprüfung kann überschiessendes Verhalten begrenzt werden. Ist es wirklich erforderlich, eine Person in einer Pflegeeinrichtung zwei Wochen in ein Zimmer zu sperren, weil sie einen fünfminütigen Spaziergang an der frischen Luft getätigt hat (auch wenn es zum Schutz einer Risikopatientin geschieht)? Ist es erforderlich, einen Anlass zu unterbinden, nur weil minime Änderungen am Schutzkonzept vorgenommen wurden?
  • Fehlende Rechtfertigung durch Rechtsgleichheitsbedenken: Im Ergebnis scheuen sich einige Hoheitsträger vor genauen Verhältnismässigkeitsprüfungen, weil sie häufig als Folge davon die Konfrontation mit Rechtsgleichheitsproblemen fürchten. Das pauschale «Verbieten und Gewähren» scheint ein sicherer Mechanismus zu sein, um in solchen Zeiten zumindest eine gleiche Lösung für alle zu finden. Dass es nicht so einfach ist, demonstriert schon der blosse Umstand, dass zwischen unterschiedlichen Branchen, Institutionen und Personen bei fast allen Massnahmen differenziert wird. Von gleicher Regelung für alle kann daher kaum die Rede sein. Die Bitte um eine differenzierte Prüfung i.S.d. Verhältnismässigkeitsprinzips ist also stets angebracht und kann nicht mit Rechtsgleichheitserwägungen abbedungen werden.
  • Kulanz: In diesen Zeiten ist es besonders wichtig, das Vertrauen der Bevölkerung zu gewinnen. Vertrauen lässt sich am besten durch Verständnis generieren. Das kann bedeuten, dass auch dort Massnahmen begründet werden, für die grundsätzlich keine rechtliche Verpflichtung herrscht. Rücksichtsvollere Informationsstrategien und Anhörungsrechte erleichtern die Ausgangslage für alle involvierten Beteiligten. Kulanz ist vielleicht das Stichwort schlechthin, wenn es um den Umgang mit dieser ausserordentlichen Situation geht: sie ist die wichtigste Komponente zur Bewältigung der zukünftigen Konflikte. Sie ist auch angebracht ─ schliesslich hat dieser Beitrag aufzeigen wollen, in wie vielen verschiedenen Grundprinzipien das Verwaltungsrecht ihre Berücksichtigung ermöglicht.

Renata Trajkova ist wissenschaftliche Assistentin und Doktorandin an der UZH, Rechtsanwaltskandidatin in Zürich und Head des Teams Öffentliches Recht bei Corona-Legal, einem gemeinnützigen Verein, der durch die Corona-Krise Betroffene unentgeltlich mit rechtlicher Beratung unterstützt.

  1. 1Zum Begriff der ausserordentlichen Lage: Brunner Florian/Wilhelm Martin/Uhlmann Felix, Das Coronavirus und die Grenzen des Notrechts, AJP 2020 S. 685 ff., 691.
  2. 2Zum Anwendungsbereich der schematischen Art. 36 BV-Prüfung Biaggini Giovanni, in: BV Kommentar, Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2. Aufl., Zürich 2017, Art. 36 N 4.
  3. 3Statt vieler: Schindler Benjamin/Tschumi Tobias, in: Ehrenzeller Bernhard/Schindler Benjamin/Schweizer Rainer J./Vallender Klaus A. (Hrsg.), Die schweizerische Bundesverfassung, St. Galler Kommentar, 3. Aufl., Zürich/St. Gallen 2014, Art. 5 N 33.
  4. 4Zum Begriff des Notrechts: Brunner Florian/Wilhelm Martin/Uhlmann Felix (Fn. 1), S. 688.
  5. 5Vgl. zur Einzelfallgesetzgebung der aktuellen Covid-19-Verordnung Höfler Stefan, Notrecht als Krisenkommunikation?, AJP 2020, S. 702 ff., 705 ff.
  6. 6SG-Komm.- Schindler/Tschumi (Fn. 3), Art. 5 N 36.
  7. 7Zu Notrechtsklauseln als Versuch das demokratische Dilemma zu lösen Brunner/Wilhelm/Uhlmann (Fn. 1), S. 686.
  8. 8Vgl. Hinweise bei Brunner/Wilhelm/Uhlmann (Fn. 1), S. 686; vgl. Andreas Kley, Verfassungsgeschichte der Neuzeit, 4. Aufl., Bern 2020, S. 353 f.
  9. 9Griffel Alain, Allgemeines Verwaltungsrecht im Spiegel der Rechtsprechung, Zürich/Basel/Genf 2017, S. 111 f.
  10. 10Dem heutigen Verständnis entsprechend lässt sich aus den Staatsaufgaben eine Vielzahl von öffentlichen Interessen herausfiltern vgl. BGE 138 I 378 E. 8.3; Tschannen Pierre/Zimmerli Ulrich/Müller Markus, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl., Bern 2014, S. 157.
  11. 11Zu den Teilgehalten statt vieler Griffel (Fn. 9), S. 89.
  12. 12Zu den Verwaltungsverordnungen Tschannen/Zimmerli/Müller (Fn. 10), S. 390 ff.
  13. 13BGE 133 I 286 E. 2.1; vgl. zum Rechtsschutz Tschannen/Zimmerli/Müller (Fn. 10), S. 394.
  14. 14Statt vieler: BV- Komm.- Biaggini (Fn. 2), Art. 29 N 17 ff.
  15. 15Zum Vertrauensschutz Tschannen/Zimmerli/Müller (Fn. 10), S. 172 ff.
  16. 16Statt vieler: Griffel (Fn. 9), S. 100.
  17. 17Allgemein zur nachträglich fehlerhaft gewordenen Verfügung Griffel (Fn. 9), S. 121.
  18. 18Griffel (Fn. 9), S. 127 f.
  19. 19Zur normkorrigierenden Wirkung des Verhältnismässigkeitsprinzips Griffel (Fn. 9 ), S. 95.

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