Liebe Leserinnen und Leser
Das neue Rechnungslegungsrecht gemäss Art. 957 ff. OR, sozusagen der «grosse Bruder» des im Jahr 2008 in Kraft getretenen Revisionsrechts, gilt seit anfangs Jahr. Obwohl Übergangsfristen eine sanfte Einführung in der Schweiz erlauben, haben sich nun also mehr als 300'000 Unternehmen mit diesen Fragestellungen zu beschäftigen – früher oder später!
Besser wäre sicherlich: «früher»; und dies ist einer der Gründe für die vorliegende Schwerpunkt-Ausgabe zum Rechnungslegungsrecht:
Obwohl sich das Rechnungslegungsrecht sowohl national als auch international in den letzten Jahren zu einer eigentlichen Spezialistenmaterie entwickelt hat, müssen ohne Zweifel sämtliche mit Wirtschaftsfragen befasste Juristinnen und Juristen, Treuhänderinnen und Treuhänder oder Unternehmerinnen und Unternehmer sensibilisiert sein für die neuen legislativen Anforderungen in diesem Zusammenhang.
Aus Theorie und Praxis (durchaus in befruchtender Kombination) nehmen zahlreiche anerkannte Autoren zu ausgewählten Themen in der Folge nunmehr Stellung:
Prof. Dr. Lukas Handschin stellt in seinem Beitrag die wichtigsten Neuerungen aus gesellschaftsrechtlicher Sicht vor und würdigt die neuen Vorschriften im Hinblick auf die Auswirkung der Normen kritisch. Im Besonderen beleuchtet der Autor die Thematik rund um die Bewertung zu Fortführungswerten im Zusammenhang mit Art. 725 OR und der damit verbundenen (indirekten) Pflicht, eine Liquiditätsplanung vorzunehmen.
Überlegungen zur erstmaligen zwingenden und zur freiwilligen vorzeitigen Anwendbarkeit des neuen Rechnungslegungsrechts finden sich im Aufsatz von Prof. Dr. Lukas Glanzmann und Jean-Daniel Schmid. Die Autoren analysieren die Übergangsbestimmungen des neuen Rechnungslegungsrechts und zeigen mögliche Antworten auf die zuweilen vom Gesetz nicht eindeutig beantworteten übergangsrechtlichen Fragestellungen auf. Besondere Aufmerksamkeit schenken die Autoren möglichen Fallstricken bei der Konzernrechnungslegung.
An der Schnittstelle von Eigenkapitalschutzmechanismen und den Normen über Buchführung, Rechnungslegung und Revision diskutieren Kaspar Müller und Dr. Felix H. Thomann die betriebs- und volkswirtschaftliche Bedeutung des Eigenkapitals. Im weiteren Verlauf ihres Beitrags legen die Autoren die allgemeinen Entwicklungen dar, welche eine Erosion des Eigenkapitalschutzes bewirken.
Einer spezifischen Fragestellung widmet sich Sikander von Bhicknapahari. Vor dem Hintergrund der Anpassung der Verordnung vom 24. April 2002 über die Führung und Aufbewahrung der Geschäftsbücher (GeBüV) fragt der Autor, ob gestützt auf Art. 2 Abs. 3 GeBüV generell die Anwendung eines Standards in einem OR Abschluss verlangt werden kann.
In einem Kurzbeitrag beleuchtet Dr. Bernhard Madörin das neue Rechnungslegungsrecht als Steuerkatalysator. Der Autor analysiert die geänderte Rechnungslegung unter steuerlichen Gesichtspunkten und unter Beizug der Praxis.
Im Grossen und Ganzen sollte als Folge der grossen Revision das Rechnungslegungsrecht klarer und übersichtlicher werden. Verschiedene formelle und materielle Neuerungen machen ohne weiteres Sinn – zumindest Jus-Studentinnen und Jus-Studenten dürfen sich freuen...
Interessant zu beobachten wird sein, wie sich das Rechnungslegungsrecht schliesslich in der «freien Wildbahn» entwickeln wird. Insbesondere darf nicht übersehen werden, dass die Wirtschaftsrealität in diesem Bereich stark geprägt, wenn nicht sogar dominiert wird durch verschiedene Selbstregulierungen in der Schweiz (z.B. Swiss GAAP FER) sowie auf internationaler Ebene (v.a. IFRS sowie U.S. GAAP). In einigen Jahren dürften sich Jusletter und die Jusletter-Leser erneut mit dieser Thematik befassen (müssen)!
Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre und einen guten Start in die neue Woche.
Prof. Dr. Peter V. Kunz |
Ordinarius für Wirtschaftsrecht Universität Bern Redaktor Jusletter |