[Essay] Gerber / Covid-19: Menschenbild im Wandel – Homo homini virus est?
Der sich wohl noch länger hinziehenden Coronalage ist mit der Erörterung einzelner epidemiologischer, juristischer und politischer Aspekte nicht mehr beizukommen. Zum echten «Gamechanger» wird möglicherweise erst eine breite Diskussion über das sich seit Pandemiebeginn gewandelte Menschenbild – vom vermutungsweise gesunden zum vermutungsweise kranken Menschen.
Gegenwärtig rollt die x-te Coronawelle über die Schweiz. Seit Februar 2020 gelten verschiedene Coronamassnahmen. Zudem ist der «Kuchen» der gesetzlichen Leistungen, v.a. im Intensivpflegebereich, durch Personal- und damit auch Bettenverlust kleiner geworden. Anlass genug für ein Schlaglicht auf ein markantes Coronaphänomen: Das bis zum Pandemiebeginn in der Schweiz «übliche» Menschenbild scheint sich in dieser Zeit stark gewandelt zu haben.
Das «big picture» des staatlichen Risikomanagements bei Covid-19: Coronamassnahmen aller Art beruhen auf der rechtlich mehr oder weniger sinnvoll materialisierten Grunderkenntnis, wonach umso weniger Virenübertragungen erfolgen, je mehr physische Distanz die Menschen zueinander halten. Bei respiratorischen Viren handelt es sich allerdings um ein konstantes, im sozialen Leben alltägliches und saisonal akzentuiertes, zunächst grundsätzlich von allen Menschen zwangsläufig zu tragendes Lebensrisiko. Gegenmassnahmen wie das «social distancing» gegenüber der breiten Bevölkerung verursachen daher, je nach deren Intensität und Dauer, sofort gesamtgesellschaftliche Kollateralschäden. In der Gesamtbevölkerung die Verbreitung ubiquitärer respiratorischer Viren zu vermindern, ist ohnehin schwerer als das sprichwörtliche Hüten eines Sacks voller Flöhe. Hierzu ist je nach Massnahme ein technisch und personell beliebig aufwändiger (staatlicher) Kontrollapparat erforderlich. Es drohen zudem bei gleichzeitig ergriffenen und/oder undifferenzierten, nicht risikobasierten Massnahmen gegenüber der breiten Bevölkerung falsche und kontraproduktive Kausalitätsbeurteilungen sowie Kontrollillusionen. Bei erhöhter Gefahrenlage durch respiratorische Viren, wie gegenwärtig durch Covid-19, drängt sich realistischerweise der gezielte Schutz der unterdessen gut identifizierbaren Risikogruppen auf. Soweit die Theorie.
Heute zeigt sich allerdings die folgende Gesamtsituation: Staatliche Coronaregeln gelten in praktisch allen Lebensbereichen (noch) ausserhalb der eigenen vier Wänden – unabhängig vom individuellen Risikostatus und vom klinischen Zustand der betroffenen Personen. Der Zutritt zu den meisten öffentlich zugänglichen Innenräumen ist für den Grossteil der Bürgerinnen und Bürger nur noch mit Masken und/oder Zertifikat möglich. Daneben sind weitere BAG-Hygienevorschriften wie Abstandsgebote, Niessvorschriften und Handschlagverbote einzuhalten. Auch (maskierte) Schulkinder werden mittels mehr oder weniger freiwilliger Massentests auf ihre epidemiologische Gefährlichkeit «gescannt».
Es entsteht der Eindruck, der Mensch solle möglichst hermetisch mit verschiedenen «Schutzschichten» bzw. Massnahmen von anderen Menschen abgeschirmt werden. Der Mensch wird von Staat und Gesellschaft somit einer persönlich zu widerlegenden «Krankheitsvermutung» unterworfen. Seine gesellschaftliche Relevanz wird zurzeit in erstaunlichem Ausmass über seine Eigenschaft als potenziell tödliche Virenschleuder definiert – im Grunde eine persönliche Beleidigung. Vermutungsweise gesunde Menschen existieren de iure coronae auch in der Schweiz praktisch nicht mehr.
Das Menschenbild scheint sich also verändert zu haben: Nur ein maskierter und/oder getesteter und/oder geimpfter Mensch ist ein (guter?) Mensch – und das auch nur mit genügendem Abstand oder hinter Plexiglasscheiben. Dieses Menschenbild hat seine Berechtigung (nur) in Gebieten mit massiv gesteigerten Sicherheitsanforderungen wie in einer Laborumgebung oder im professionellen Gesundheitsbereich.
Die Covid-19-Pandemie wird seit Beginn prominent via täglich medial frisch aufbereitetem Datenmaterial unerbittlich ins Alltagsbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger gespeist. Dabei fehlen meistens gleichzeitige Relationsangaben zu mindestens so relevanten Lebensrisiken. Dazu kommt der Versuch der stigmatisierenden und Schuld oder Unschuld implizierenden Unterteilung von Bevölkerungsgruppen in «Treiber» oder «Nichttreiber» der Pandemie.
Die staatlich vermutete generalisierte Fremdgefahr durch Covid-19 hat den Boden bereitet für die undifferenzierte Kollektivierung der Gesundheit und entsprechendem moralischem Druck auf bestimmte Bevölkerungsgruppen – abwechselnd Reiserückkehrer im Allgemeinen, speziell z.B. Menschen aus dem Balkan, Partygänger, aktuell pauschal Ungeimpfte. Wer als nächstes?
Vorderhand wird das «perpetuum mobile» von Virusmutationen und Massnahmen vermutlich ungebrochen weiterlaufen. Es wird sich aber je länger je mehr fragen, zu welchem Preis sich die gegenwärtig herrschenden Erwartungen an den coronabezogenen «Hygienestaat» aufrechterhalten lassen. Erst diese breite Diskussion wird möglicherweise zum echten «Gamechanger» der Pandemie.
Die künftige Aufarbeitung der Covid-19-Pandemie wird sich der Frage zuwenden müssen, wie sich ein Menschenbild aus einer Laborumgebung oder aus dem professionellen Gesundheitsbereich zum Massstab für das gesamtgesellschaftliche Leben entwickeln konnte. Eine unvoreingenommene Analyse wird wahrscheinlich erst in einigen Jahrzehnten möglich sein – wenn sich (auch in den Köpfen) die dunklen Coronawolken verzogen haben.
Dr. iur. Kaspar Gerber, LL. M., wissenschaftlicher Mitarbeiter (Postdoc) am Lehrstuhl für Staats-, Verwaltungs- und Sozialversicherungsrecht, Universität Zürich.
Gepostet am 17. Dezember 2021
Zitiervorschlag: Gerber / Covid-19: Menschenbild im Wandel – Homo homini virus est?, in: Jusletter Coronavirus-Blog 17. Dezember 2021
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