Jusletter Coronavirus-Blog

[Staatsrecht] Kettiger / Die Einschränkung von Demonstrationen vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse

Der vorliegende Beitrag befasst sich vertieft mit der Frage von Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit unter Covid-19. Er kommt auf der Grundlage von wissenschaftlichen Studien zum Schluss, dass die Maskenpflicht und die Beschränkung der Anzahl der teilnehmenden Personen geeignete, erforderliche und grundsätzlich zumutbare Grundrechtseingriff darstellen. Mit einem Mix aus erweiterten Massnahmen könnten allerdings die gleichen Schutzziele zur Eindämmung von Covid-19 erreicht werden, obwohl mehr Personen partizipieren könnten.

1. Anlass/Fragestellung

Die Frage, ob Demonstrationen1 während der Covid-19 Epidemie verboten sein sollen oder mit bestimmten Einschränkungen und Auflagen durchgeführt werden dürfen, bewegt Ende März 2021 die Schweiz. Obschon die Stadt Bern die Demonstration der Klimajugend in der Form eines organisierten Sitzstreiks bewilligt hatte, löst die Polizei die Kundgebung am Freitag, 19. März 2021 auf: Nachdem sich über 200 Klima-Aktivisten – statt der erlaubten 15 – auf dem Berner Waisenhausplatz versammelten, schritt die Polizei ein, kontrolliert 200 von ihnen und 180 Demonstranten wurden angezeigt.2 Auch die Zürcher Stadtpolizei duldete den Klima-Sitzstreik wie angekündigt nicht: Die rund 200 Demonstrantinnen und Demonstranten, die sich auf dem Sechseläutenplatz versammelt hatten, wurden weggewiesen. Sowohl in Bern wie Zürich sind Demonstrationen nur mit höchstens 15 Personen zulässig; beide Kantonsregierungen halten an dieser Beschränkung fest. Etwa 8000 Personen – die meisten ohne Schutzmasken – nahmen am 21. März 2021 in Liestal an einer bewilligten Demonstration gegen die Corona-Massnahmenpolitik teil; die Polizei liess sie gewähren.3 Die Organisatoren sollen offenbar trotz Missachtung von Auflagen straffrei ausgehen.4 Der Vorfall löste im Internet eine Gegenbewegung «#NoLiestal» aus. Die Sicherheitsdirektion des Kantons Uri befasste sich in der Folge mit der vom Aktionsbündnis Urkantone angekündigten Kundgebung am 10. April 2021 in Altdorf und beschloss am 25. März 2021 nach sorgfältiger Abwägung, die Bewilligung nicht zu erteilen; begründet wurde dies mit einer erheblichen Infektionsgefahr.5 Der Regierungsrat des Kantons Uri beschloss zudem am 26. März 2021 durch eine zusätzliche Bestimmung auf Verordnungsstufe6 ab dem 1. April 2021 «politische und zivilgesellschaftliche Kundgebungen von mehr als 300 Personen im Kanton Uri» zu verbieten.7 Ein Staatsrechts-Professor würde in der Folge ein Bundesgerichtsurteil begrüssen: Es brauche einheitliche und nachvollziehbare Regeln in der Schweiz, wie man mit Corona-Demos umgeht.8 Diese Forderung ist leicht gestellt – aber wie sollen solche Regelungen ausgestaltet sein?

Die Frage, ob und in welcher Weise Demonstrationen zur Eindämmung von Covid-19 eingeschränkt werden sollen, ist nicht ganz neu. Bereits im Juni 2020 lösten Demonstrationen, die ohne Bewilligung oder unter Verletzung der Covid-19-Verordnungen bzw. von Auflagen durchgeführt wurden eine Reihe von Vorstössen im eidgenössischen Parlament aus.9

Die schweizerische Bundesverfassung kennt keine eigenständige Kundgebungs- bzw. Demonstrationsfreiheit; die Durchführung von Kundgebungen auf öffentlichem Grund wird durch die Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV10) in Verbindung mit der Meinungsfreiheit (Art. 16 BV) geschützt.11 Die Einschränkung von Demonstrationen ist mithin mit einem Grundrechtseingriff verbunden. Damit stellt sich die staatsrechtliche Frage, ob und wie weit politische Kundgebungen zum Zweck der Verhinderung der Ausbreitung von Covid-19 verboten oder eingeschränkt bzw. mit Auflagen verbunden werden können. Dieser Frage geht der vorliegende Beitrag vor dem Hintergrund von aktuellen wissenschaftlichen Publikationen nach.

2. Zur Wirksamkeit ausgewählter Massnahmen zur Eindämmung von Covid-19

2.1 Die Einschränkung von Menschenansammlungen als Massnahme zur Bekämpfung von Covid-19

In der Mehrheit der Staaten der Welt wurden als Massnahme zur Bekämpfung von Covid-19 Versammlungen von Menschen (englisch «gatherings» oder «events») ganz verboten oder bezüglich der Anzahl der teilnehmenden Personen eingeschränkt. Diese als «Veranstaltungsmassnahmen» bezeichneten staatlichen Anordnungen zur Eindämmung der Covid-19 Epidemie gehören zu den so genannten nicht-pharmazeutischen Massnahmen (englisch «non-pharmaceutical interventions», kurz «NPIs»).

Bereits im Juli 2020 veröffentlichte das Staatssekretariat für Wirtschaft (SECO) eine Metastudie, welche zu folgendem Ergebnis kam: «Aus den Studien zur Wirksamkeit von Veranstaltungsmassnahmen lässt sich die generelle Tendenz ableiten, dass Beschränkungen und Verbote von grossen Menschenversammlungen und Veranstaltungen einen Beitrag zur Eindämmung des Virus leisten. Die Mehrheit der Studien identifiziert einen signifikanten Einfluss, der meist in Kombination mit anderen Massnahmen auftritt.»12 Zum Zeitpunkt der Publikation der berücksichtigten Studien, war noch einiges hinsichtlich der Übertragungsmechanismen des Coronavirus Sars-CoV-2 unklar.

Eine neue, internationale Studie, welche 41 Staaten berücksichtigt und im Februar 2021 veröffentlicht wurde, kommt nun zum Ergebnis dass die Einschränkung von Versammlungen eine wirksame Massnahme zur Eindämmung von Covid-19 ist: «Banning gatherings was effective, with a large effect size for limiting gatherings to 10 people or less, a moderate-to-large effect for 100 people or less, and a small-to-moderate effect for 1000 people or less.»13 Die Verfasser kommen zum Schluss, dass alleine mit der Kombination der Massnahmen der Schliessung von Schulen und Universitäten, der Schliessung von risikobehafteten Berufstätigkeiten und Geschäften sowie der Einschränkung von Versammlungen auf unter 10 Personen der R-Wert hätte unter 1 gebracht werden können.14 Auch andere (ältere) Studien stützen die Erkenntnis, dass Verbote und Einschränkungen von Versammlungen zu den wirksamsten Massnahmen zur Eindämmung von Covid-19 zählen15 und dass besonders die Begrenzung der Anzahl der Teilnehmenden auf 100 und weniger, 50 und weniger, sowie insbesondere 10 und weniger hoch wirksam ist.16

Zusammenfassend darf man davon ausgehen, dass die Beschränkung der Anzahl Teilnehmenden an Versammlungen auf unter 10 Personen eine signifikant hohe, die Beschränkung der Anzahl Teilnehmenden an Versammlungen auf unter 100 Personen eine mittlere bis hohe und die Beschränkung der Anzahl Teilnehmenden an Versammlungen auf unter 1'000 Personen eine schwache bis mittlere Wirkung zur Eindämmung von Coviod-19 hat. Ob die weitere Einschränkung der Anzahl Personen unter 10 – z.B. im Sinne der uns bekannten 5er-Regel für private Treffen – eine zusätzliche Wirkung hat, wurde offenbar bisher epidemiologisch nicht untersucht. Aus der Extrapolation der bestehenden Studie sowie auf der Grundlage allgemeiner (virologischer) Erkenntnisse und Annahmen über die Verbreitung des Virus darf wohl von einer zusätzlichen Wirkung zur Verhinderung der Übertragung des Virus ausgegangen werden (es fehlen aber verlässliche Angaben über das Ausmass der zusätzlichen Wirkung).

2.2 Das Tragen von Gesichtsmasken als Massnahme zur Bekämpfung von Covid-19

Neben dem Verbot von Demonstrationen oder der Einschränkung der Anzahl der Teilnehmenden an Demonstrationen wird oft verlangt, dass an Demonstrationen Gesichtsmasken17 getragen werden.

Die Wirksamkeit von Gesichtsmasken zur Verhinderung der Übertragung von Covid-19 war im Juli 2020 noch nicht vollständig geklärt,18 trotzdem wurden Hygienemasken schon damals als wirksame Massnahme empfohlen: «Bezüglich der Hygienemassnahmen resultiert, dass vor allem Masken – falls von infizierten Personen getragen – helfen, die Verbreitung des Virus zu reduzieren.»19 Es gab auch schon damals Studien, welche dies belegten 20

In der Zwischenzeit liegen zahlreiche weitere publizierte Studien vor, welche die Wirksamkeit von Gesichtsmasken belegen. 21 So findet sich etwa in einer Publikation vom Februar 2021 folgende zusammenfassende Aussage: «Es ist plausibel davon auszugehen, dass eine konsequente Anwendung der Mund-Nasen-Bedeckung wesentlich zur Eindämmung der Verbreitung von SARS-CoV-2 beitragen kann.»22

Als eines der wenigen Gerichte in der Schweiz hat sich das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich schon mehrfach ausführlich mit der Maskenpflicht befasst23 und ist zum Schluss gekommen, dass sich die Maskentragpflicht zumindest in Innenräumen von Einkaufslokalitäten als erforderlich erweist, um die Ausbreitung von Covid-19 zu verlangsamen und damit die Epidemie zu bekämpfen.24 Dem Verfasser sind keine schweizerischen Urteile zur Maskenpflicht im Freien bekannt. In Deutschland haben Verwaltungsgerichte eine Maskenpflicht im Freien in der Regel als zulässig erachtet, wenn ein Abstand von mindestens 1.5 Metern zwischen en Personen nicht eingehalten werden kann.25

Es muss heute davon ausgegangen werden, dass die Maskenpflicht eine wirksame und weitgehend anerkannte Massnahme zur Verhinderung der Übertragung des SARS-CoV-2 Virus ist.

3. Demonstrationen in der Covid-19 Epidemie: Die Rechtslage

3.1 Die Gewährleistung der «Demonstrationsfreiheit»

Die schweizerische Bundesverfassung kennt – wie schon erwähnt – keine eigenständige Kundgebungs- bzw. Demonstrationsfreiheit; die Durchführung von Kundgebungen auf öffentlichem Grund wird durch die Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV) in Verbindung mit der Meinungsfreiheit (Art. 16 BV) geschützt.26

Das Bundesgericht hat die Grundzüge der Meinungs- und Versammlungsfreiheit hinsichtlich von Kundgebungen auf öffentlichem Grund wie folgt zusammengefasst: «Art. 16 BV gewährleistet die Meinungsfreiheit ausdrücklich und räumt jeder Person das Recht ein, ihre Meinung frei zu bilden und sie ungehindert zu äussern und zu verbreiten. Darunter fallen die verschiedensten Formen der Kundgabe von Meinungen. Die Versammlungsfreiheit gemäss Art. 22 BV gewährleistet den Anspruch, Versammlungen zu organisieren, an Versammlungen teilzunehmen oder Versammlungen fernzubleiben. Zu den Versammlungen gehören unterschiedlichste Arten des Zusammenfindens von Menschen im Rahmen einer gewissen Organisation mit einem weit verstandenen gegenseitig meinungsbildenden oder meinungsäussernden Zweck (…). Besondere Aspekte der Meinungs- und Versammlungsfreiheit weisen Kundgebungen auf öffentlichem Grund mit dem damit einhergehenden gesteigerten Gemeingebrauch auf. Solche Kundgebungen bedingen, dass entsprechender öffentlicher Grund zur Verfügung gestellt wird, schränken die gleichartige Mitbenützung durch unbeteiligte Personen ein und sind lokal und temporär nicht mehr gemeinverträglich. Dies ruft nach einer Prioritätenordnung unter den verschiedenen Benutzern und erlaubt, Demonstrationen einer Bewilligungspflicht zu unterstellen. Die Meinungs- und Versammlungsfreiheit erhalten im Zusammenhang mit Demonstrationen einen über reine Abwehrrechte hinausgehenden Charakter und weisen ein gewisses Leistungselement auf. Die Grundrechte gebieten in Grenzen, dass öffentlicher Grund zur Verfügung gestellt wird oder unter Umständen anderes als das in Aussicht genommene Areal bereitgestellt wird, das dem Publizitätsbedürfnis der Veranstalter in anderer Weise Rechnung trägt. Ferner sind die Behörden verpflichtet, durch geeignete Massnahmen wie etwa durch Gewährung eines ausreichenden Polizeischutzes dafür zu sorgen, dass öffentliche Kundgebungen tatsächlich stattfinden können und nicht durch gegnerische Kreise gestört oder verhindert werden. Im Bewilligungsverfahren darf die Behörde die gegen eine Kundgebung sprechenden polizeilichen Gründe, die zweckmässige Nutzung der vorhandenen öffentlichen Anlagen im Interesse der Allgemeinheit und der Anwohner und die mit einer Kundgebung verursachte Beeinträchtigung von Freiheitsrechten unbeteiligter Dritter mitberücksichtigen. Zu den polizeilichen Gründen zählen namentlich solche des öffentlichen und privaten Verkehrs, der Vermeidung von übermässigen Immissionen, der Aufrechterhaltung der Sicherheit und der Abwendung unmittelbarer Gefahren von Ausschreitungen, Krawallen und Gewalttätigkeiten sowie Übergriffen und Straftaten jeglicher Art. Die öffentliche Ordnung lässt keinen Raum für Meinungskundgebungen, die mit rechtswidrigen Handlungen verbunden sind oder einen gewalttätigen Zweck verfolgen. Im Bewilligungsverfahren ist - über das Willkürverbot und das Gleichheitsgebot hinaus – dem ideellen Gehalt der Meinungs- und Versammlungsfreiheit Rechnung zu tragen; insbesondere darf nicht massgebend sein, ob die von den Demonstranten vertretenen Auffassungen und Anliegen der zuständigen Behörde mehr oder weniger wertvoll erscheinen. Die verschiedenen Interessen sind nach objektiven Gesichtspunkten gegeneinander abzuwägen und zu gewichten. Eine dem Grundsatz der Verhältnismässigkeit genügende Gestaltung kann die Anordnung von Auflagen und Bedingungen sowie eine entsprechende verhältnismässige Mitwirkung der Veranstalter erfordern.»27

Einzelne Kantone kennen in ihren Verfassungen ein Grundrecht der Demonstrationsfreiheit28 – diese Rechte gehen aber nicht über den Anspruch aus der Bundesverfassung hinaus.

3.2 Einschränkungen der «Demonstrationsfreiheit» im Covid-19-Recht

Das geltende Recht regelt Demonstrationen unter Covid-19 in Art. 6c Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage29 wie folgt: «Für politische und zivilgesellschaftliche Kundgebungen und für Unterschriftensammlungen sind die Artikel 4–6 nicht anwendbar. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer müssen eine Gesichtsmaske tragen; es gelten jedoch die Ausnahmen nach Artikel 3b Absatz 2 Buchstaben a und b.» Bereits in der Grundfassung der Covid-19-Verordnung besondere Lage30 gab es für Demonstrationen keine Beschränkung der Anzahl Teilnehmenden, diese mussten aber eine Gesichtsmaske tragen.

Bei Demonstrationen besteht keine Pflicht zur Erarbeitung und Umsetzung eines Schutzkonzepts. Die Durchführung von Kundgebungen im öffentlichen Raum untersteht aber im Übrigen kantonalem Recht; im Rahmen der Beurteilung des Bewilligungsgesuchs kann die zuständige kantonale Behörde deshalb Auflagen machen, die letztlich auch dem Schutz vor Übertragungen dienen dürfen.31

Grundsätzlich liegt es in der Zuständigkeit der Kantone, Massnahmen anzuordnen, um die Verbreitung übertragbarer Krankheiten in der Bevölkerung oder in bestimmten Personengruppen zu verhindern (Art. 40 Abs. 1 EpG32). In besonderen Lagen ist auch der Bundesrat befugt, entsprechende Massnahmen gegenüber Einzelpersonen oder gegenüber der Bevölkerung anzuordnen (Art. 6 Abs. Bst. a und b EpG). Dies hat der Bundesrat mit der Covid-19-Verordnung besondere Lage getan. Gemäss Art. 118 Abs. 2 Bst. b BV hat der Bund eine verpflichtende Gesetzgebungskompetenz mit nachträglich derogierender Wirkung33 zum Erlass von «Vorschriften über die Bekämpfung übertragbarer, stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten von Menschen und Tieren». Wenn somit der Bund solche Massnahmen durch Rechtserlass (Gesetz und/oder Verordnung) angeordnet hat, dann verdrängen diese das kantonale Recht. Wenn der Bundesrat in Art. 6c Abs. 4 Covid-19-Verordnung besondere Lage Regelungen für Demonstrationen erlässt, so verdrängt dies grundsätzlich entsprechende kantonale Regelungen. Nun lässt aber 8 Covid-19-Verordnung besondere Lage ausdrücklich zusätzliche Massnahmen der Kantone gemäss Art. 40 EpG zu, wenn es die epidemiologische Lage erfordert. Die Kantone müssen aber dabei die «Ausübung der politischen Rechte» ausdrücklich gewährleisten (Art. 8 Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage). Das Bundesrecht schliesst damit ein generelles Demonstrationsverbot durch die Kantone aus.34 Bei der Überprüfung von Regelungen der Kantone, welche das Demonstrationsrecht über Art. 6c Abs. 4 Covid-19-Verordnung besondere Lage hinausgehend einschränken, müssen die Gerichte immer auch von Amtes wegen überprüfen, ob die Voraussetzungen nach Art. 8 Abs. 1 Covid-19-Verordnung besondere Lage und damit die Rechtsetzungszuständigkeit des Kantons gegeben ist. Die kantonale Regelung muss vor dem Hintergrund der epidemiologischen Lage auf ihre Verhältnismässigkeit geprüft werden.

Verschiedene Kantone haben solche einschränkenderen Regelungen für Demonstrationen Erlassen. So lassen die Kantone Bern35 und Zürich36 Demonstrationen nur bis zu einer Anzahl teilnehmenden Personen von 15 zu; wobei die Einschränkung im Kanton Zürich nach dem klaren Wortlaut der Regelung nur für den öffentlichen Raum gilt, nicht aber in Freien auf privatem Grund. Im Kanton Uri gilt ab dem 1. April 2021 eine Beschränkung auf 300 Personen.37

3.3 Exkurs: Überhöhter Stellenwert des Demonstrationsrechts

Der Demonstrationsfreiheit wird in der Schweiz traditionell und noch heute ein hoher – um nicht zu sagen besonderer – Stellenwert hinsichtlich der Meinungsäusserung, aber auch hinsichtlich der direkten Demokratie eingeräumt. So führte der Bundesrat im Zusammenhang mit dem Demonstrationsrecht unter Covid-19 folgendes aus: «Der Bundesrat ist sich aufgrund ihrer essentiellen Bedeutung für die Ausübung jeder Form der Demokratie bewusst, dass die Versammlungsfreiheit als Ausdruck der Meinungsäusserungsfreiheit in besonderer Weise geschützt werden muss.»38 Dieses Paradigma gilt es im Zeitalter der digitalen Transformation zu überprüfen.

Die Nutzung des öffentlichen Raums zu (demokratisch) politischen Zwecken geht in die Antike zurück, in der griechischen und römischen Antike waren die Agora bzw. das Forum Ort für Politik, Wirtschaft und Vergnügen.39 Vom 17. bis ins 19. Jahrhundert war vor dem Hintergrund absolutistischer Regierungen und staatlicher Zensur der Zeitungen ein Protest gegen die Regierungspolitik oder gegen das Gebaren von Beamten meistens nur in der Form von Demonstrationen möglich – man trug seine Anliegen sprichwörtlich durch die Strassen der Stadt. Noch bis Anfangs der 1990er-Jahre war die politische Meinungssäusserung ausserhalb von Wahlen und Abstimmungen nur mittels Petition, Leserbrief und Teilnahme an einer Demonstration möglich.

Im Rahmen des digitalen Wandels haben sich neue Möglichkeiten der individuellen und kollektiven politischen Meinungsäusserung geöffnet, die gleichwertig neben Petition, Leserbrief und Teilnahme an einer Demonstration stehen: Online-Petitionen, Aktionen in den diversen Sozialen Medien (z.B. «#NoLiestal»), Abstimmungen auf Webseiten von Medien, Kommentarfunktionen auf Webseiten von Medien, Fahnen und Spruchbänder auf Balkonen, kollektives Ein- bzw. Ausschalten des Lichts, etc.40 Insgesamt ist zu beobachten, dass die Coronavirus-Krise die ohnehin bestehende Tendenz zur Digitalisierung von Protest weiter verstärkt.41 Es gibt allerdings Untersuchungen dahingehend, dass vor allem Online-Vernetzung und Offline-Protest sich gegenseitig stützen und stärken; Online-Aktivismus kann den Austausch erleichtern – ohne Offline-Aktionen trifft er jedoch selten auf grosse Resonanz.42 Ganz offensichtlich ist das Sensorium für Onlineproteste in den Medienhäusern wie in der Gesellschaft insgesamt noch zu gering, als dass es reichen würde, sich allein im digitalen Raum zu versammeln. Mithin haben Demonstrationen zwar an Bedeutung verloren, sind aber im demokratischen Rechtsstaat immer noch von einer gewissen Bedeutung. Die Bedeutung ist allerdings für die Organisatorinnen und Organisatoren von politischem Aktivismus grösser als für die Bürgerin bzw. den Bürger. Es wird hier die These vertreten, dass es für den politischen Erfolg einer Bewegung wichtiger ist, dass eine Demonstration medienwirksam stattfinden kann, als in welcher Form und mit wie vielen Teilnehmenden diese stattfindet.

Für gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger ist somit eine Einschränkung der Demonstrationsfreiheit rechtlich betrachtet weitestgehend nur ein Eingriff in die Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV) und nicht gleichzeitig auch in die Meinungsfreiheit (Art. 16 BV). Dem ist bei der rechtlichen Würdigung der Zulässigkeit von Einschränkungen von Demonstrationen unter Covid-19 Rechnung zu tragen.

4. Die Einschränkung des Grundrechts auf Demonstrationen vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse

4.1 Voraussetzungen der Grundrechtseinschränkung (Art. 36 BV)

Die Einschränkung der Demonstrationsfreiheit unterliegt als Grundrechtseingriff den Regeln von Art. 36 BV. Vorausgesetzt werden somit – als Ausfluss des Legalitätsprinzips – eine genügende rechtliche Grundlage (Art. 36 Abs. 1), die Rechtfertigung durch ein öffentliches Interesse (Art. 36 Abs. 2 BV) und die Verhältnismässigkeit der Einschränkung (Art. 36 Abs. 3 BV).

Art. 36 Abs. 4 BV schützt zudem den Kerngehalt von Grundrechten. Ob die Meinungsfreiheit (Art. 16 BV) und die Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV) Kerngehalte aufweisen, kann hier offen bleiben. Aus der massgeblichen bundesgerichtlichen Rechtsprechung43 und aus der Kasuistik44 darf jedoch vor dem Hintergrund der immer noch bestehenden Bedeutung von Demonstrationen für die Demokratie45 geschlossen werden, dass bei der Demonstrationsfreiheit – in Verbindung von Art. 16 und 22 BVein Kerngehalt dahingehend besteht, dass Demonstrationen nicht in genereller Weise (d.h. absolut) verboten werden dürfen. Dieser Kerngehalt ist auch im Rahmen der Bekämpfung von Epidemien und Pandemien zu wahren.

4.2 Erfordernis der gesetzlichen Grundlage (Art. 36 Abs. 1 BV)

Unter «gesetzlicher Grundlage» im Sinne von Art. 36 Abs. 1 BV wird eine rechtssatzmässige Grundlage, ein so genanntes «Gesetz im materiellen Sinn» verstanden, d.h. eine von der zuständigen Behörde erlassene generelle und abstrakte Rechtsvorschrift, die zudem hinreichend bestimmt ist.46 Art. 36 Abs. 1 BV steht mithin einer Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen vom Gesetzgeber an den Verordnungsgeber nicht entgegen; eine kompetenzgemäss erlassene Regierungsverordnung kann somit als Grundlage für einen Grundrechtseingriff ausreichen.47

Art. 6c Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage stützt sich auf entsprechende Rechtsetzungsdelegationen im EpG48 und genügt den Anforderungen von Art. 36 Abs. 1 BV.

Zusätzliche kantonale Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit müssen ebenfalls die Form einer generell-abstrakten Rechtsnorm aufweisen – irgendwelche Allgemeinverfügungen, genügen dem Anspruch von Art. 36 Abs. 1 BV nicht. Wie bereits erwähnt, dürfen die Kantone nur unter der Voraussetzung von Art. 8 Abs. 1 Covid-19-Verordnung besondere Lage Einschränkungen des Demonstrationsrechts erlassen, die über Art. 6c Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage hinausgehen. Mithin bedingt der Erlass zusätzlicher kantonaler Massnahmen, dass im entsprechenden Kanton eine epidemiologische Lage oder Belastungen der Spitäler und des Contact Tracings vorliegen, die signifikant dramatischer sind, als im schweizerischen Mittel. Dies bedingt auch, dass solche zusätzlichen Massnahmen periodisch auf ihre Berechtigung überprüft werden müssen. Ob dies für den Kanton Bern zutrifft und ob damit die Beschränkung auf 15 Personen rechtmässig ist, muss angesichts der Tatsache, dass der Kanton Bern im Zeitraum Januar bis März 2021 immer eine bessere epidemiologische Situation aufwies als andere Kantone bzw. die Schweiz im Mittel, bezweifelt werden. Letztlich kann sich eine Kantonsregierung zum Erlass zusätzlicher Massnahmen nicht einfach direkt auf Art. 40 EpG stützen, sie muss vielmehr auch nach kantonalem Staatsrecht zum Erlass der Verordnungsbestimmung legitimiert sein.49

Die zuständige kantonale Behörde kann Erleichterungen gegenüber den Vorgaben nach Art. 4 Abs. 2–4 sowie nach Art. 6–6f Covid-19-Verordnung besondere Lage bewilligen, wenn (kumulativ) überwiegende öffentliche Interessen dies gebieten, die epidemiologische Lage im Kanton oder in der betreffenden Region dies aufgrund der Indikatoren nach Art. 8 Abs. 1 Bst. a Covid-19-Verordnung besondere Lage zulässt und vom Veranstalter oder Betreiber ein Schutzkonzept nach Art. 4 Covid-19-Verordnung besondere Lage vorgelegt wird, das spezifische Massnahmen umfasst, welche die Verbreitung des Coronavirus verhindern und Übertragungsketten unterbrechen (Art. 7 Covid-19-Verordnung besondere Lage). Ein Verzicht auf die Maskenpflicht gemäss Art. 6c Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage kommt dabei grundsätzlich nicht in Betracht.50 Aus Art. 7 Covid-19-Verordnung besondere Lage darf aber geschlossen werden, dass die Kantone allenfalls im Rahmen von einschränkenden Massnahmen gemäss Art. 8 Covid-19-Verordnung besondere Lage die Möglichkeit von Schutzkonzepten im Sinne von Art. 4 Covid-19-Verordnung besondere Lage mit einbeziehen dürfen.

4.3 Eignung und Erforderlichkeit (Art. 36 Abs. 2 BV)

Der Eingriff in die Demonstrationsfreiheit muss durch öffentliche Interessen oder den Schutz von Grundrechten Dritter gerechtfertigt sein (Art. 36 Abs. 2 BV). Gemäss Art. 118 Abs. 2 Bst. b BV hat der Bund eine verpflichtende Gesetzgebungskompetenz zum Erlass von «Vorschriften über die Bekämpfung übertragbarer, stark verbreiteter oder bösartiger Krankheiten von Menschen und Tieren». Die Bekämpfung von Epidemien entspricht einem Verfassungsauftrag und liegt damit zweifellos im öffentlichen Interesse. Art. 10 Abs. 2 BV gewährt zudem jedem Menschen einen Anspruch auf «körperliche und geistige Unversehrtheit». Daraus erwachsen dem Staat auch bestimmte Schutzpflichten.51 Die Massnahmen zur Verhinderung der Übertragung des Coronavirus SARS-CoV-2 dienen insbesondere auch dazu, Drittpersonen vor einer Ansteckung mit dem bisweilen sehr gefährlichen und tödlichen Virus zu schützen. Mithin darf als unbestritten gelten, dass alle Massnahmen zur Bekämpfung von Covid-19 sowohl öffentlichen Interessen wie auch dem Schutz von Grundrechten Dritter dienen. Es bedarf dazu keiner weiteren Erläuterungen.

4.4 Verhältnismässigkeit (Art. 36 Abs. 3 BV)

4.4.1 Grundsätzliches

Ein Grundrechtseingriff bedarf nach Art. 36 Abs. 3 BV weiter der folgenden Voraussetzungen im Sinne der Verhältnismässigkeit:52

  • Eignung: Der Eingriff muss zur Erreichung der angestrebten staatlichen Ziele geeignet sein.
  • Erforderlichkeit (Notwendigkeit): Der Eingriff darf in sachlicher, räumlicher und zeitlicher Hinsicht nicht einschneidender sein, als zur Erreichung des Ziels erforderlich.
  • Zumutbarkeit (Verhältnismässigkeit i.e.S.): Eingriffszweck und Eingriffswirkung müssen in einem vernünftigen Verhältnis zu einander stehen.

Die einschlägige Literatur zur Demonstrationsfreiheit und zur Einschränkung des Demonstrationsrechts, aber auch die Judikatur haben sich weitgehend auf das Verhältnis der Organisatorinnen und Organisatoren von Demonstrationen bzw. der Demonstrantinnen und Demonstranten zum Gemeinwesen beschränkt.53 Hinsichtlich der Zumutbarkeit von Einschränkungen von Demonstrationen sind aber auch die rechtlichen Beziehungen zwischen Privaten zu beachten;54 die Grundrechte Direktbetroffener stellen gemäss der Lehre55 und der bundesgerichtlichen Rechtsprechung56 einen massgeblichen Gesichtspunkt bei der Frage der Einschränkung von Demonstrationen dar. Lehre und Rechtsprechung fokussieren hier stark auf «Anwohner und Passanten».57 Bei Einschränkungen zur Verhinderung der Ausbreitung von Covid-19 sind nun die in ihren Grundrechten – nämlich in ihrer körperlichen Unversehrtheit (Art. 10 Abs. 2 BV) – zu schützenden Privaten zu einem erheblichen Teil gleichzeitig auch selber Demonstrantinnen bzw. Demonstranten. Diese Konstellation ist der Lehre und Rechtsprechung bisher nicht bekannt. Es stellt sich die Frage, wie stark der Staats Demonstrantinnen und Demonstranten vor Selbstgefährdung schützen muss bzw. darf. Die Frage darf allerdings sachlich so gar nicht gestellt werden, weil Personen, die sich während der Teilnahme an einer Demonstration anstecken, das Virus ohne es zu merken an unbeteiligte Dritte weitergeben und diese gefährden können. Wenn an Demonstrationen angsteckte Personen erheblich erkranken und sterben oder an Langzeitfolgen (sog. «long covid») leiden, belastet dies das Gesundheitssystem und die Volkswirtschaft, was aus öffentlichen Interesse vermieden werden muss, es können aber wegen übermässiger Bettenbelegungdurch an Covid-19 erkrankte Personen auch Dritte daran gehindert sein, notwendige Eingriffe und Therapien oder Wahleingriffe durchführen z lassen, was diese wiederum in ihrer Gesundheit gefährden kann.

4.4.2 Zur Verhältnismässigkeit der Maskenpflicht

Es muss heute davon ausgegangen werden, dass die Maskenpflicht eine wirksame und kostengünstige und damit geeignete Massnahme zur Verhinderung der Übertragung des SARS-CoV-2 Virus ist.58 Da nur das Abstandhalten von 1.5 Metern oder allenfalls sogar von 2.0 Metern und mehr eine ähnlich gute Wirkung entfalten kann, dieses aber bei Demonstrationen – ausser bei Sitzstreiks – meistens nicht kontrolliert möglich ist, ist das Maskentragen auch erforderlich. Der Eingriff in die Demonstrationsfreiheit ist klein und zumutbar: Die Versammlungsfreiheit (Art. 22 BV) wird überhaupt nicht berührt und die Maskentragpflicht stellt für die gewöhnlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer an Demonstrationen keinen Eingriff in die Meinungsfreiheit dar.59 Nachdem die Pflicht zum Tragen einer Maske mit bloss leichten und vorübergehenden Unannehmlichkeiten verbunden ist, liegt lediglich ein geringfügiger Eingriff in die persönliche Freiheit vor.60 Zudem können sich Personen, die aus besonderen Gründen, insbesondere medizinischen, keine Gesichtsmasken tragen können, durch eine medizinische bzw. psycholgische Fachperson von der Tragpflicht dispensieren lassen (Art. 6c Abs. 2, zweiter Teilsatz i.V.m. Art. 3a Abs. 1 Bst. b Covid-19-Verordnung besondere Lage).

Das Tragen einer Gesichtsmaske als Massnahme zur Eindämmung von Covid-19 entspricht einer Gesamtkonzeption des Bundes, zieht sich deshalb wie ein roter Faden durch die Covid-19-Verordnung besondere Lage und betrifft zahlreiche Lebensbereiche: Reisen im öffentlichen Verkehr (Art. 3a), Aufenthalt in öffentlich zugänglichen Bereichen von Betrieben und in Zugangsbereichen des öffentlichen Verkehrs (Art. 3b), Menschenansammlungen m öffentlichen Raum (Art. 3c Abs. 2), Vorzeitige Beendigung der Kontaktquarantäne (Art. 3e Abs. 2), bei Schutzkonzepten (Art. 4 Abs. 2 Bst. b), Fahrten und Anstehen bei Beförderungsanlagen in Skigebieten (Art. 5c Abs. 4 Bst. c), Jugendliche in Schulen der Sekundarstufe II sowie deren Lehrpersonen und weiteres in diesen Schulen tätiges Personal (Art. 6d Abs. 2), Sportaktivitäten (Art. 6e Abs. 1 Bst. b) und bei kulturellen Aktivitäten (Art. 6f). Es wäre geradezu grotesk, wenn bei Demonstrationen auf eine Gesichtsmaske verzichtet würde, dies insbesondere auch deshalb, weil Demonstrationen meist von einer hohen Dynamik der teilnehmenden Personen geprägt sind und das konstante Einhalten eines Abstands von 1.5 Metern oder mehr kaum möglich ist.

Damit kann festgehalten werden, dass die in Art. 6c Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage verankerte Maskenpflicht bei allen Demonstrationen grundsätzlich verfassungskonform ist.

Besonders betrachtet werden muss die Maskenpflicht bei Personen, die anlässlich von Demonstrationen – insbesondere bei Platz-Demonstrationen – zur Menge sprechen.61 Hier stellt sich die Frage, ob solche Vortragende durch die Maske in ihrer Meinungsfreiheit beeinträchtigt sind, in besonderer Weise, auch wenn Art. 6c Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage grundsätzlich keine entsprechenden Ausnahmen vorsieht. Das Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz hat sich mit dieser Frage befasst und folgendes ausgeführt: «Der nonverbale Ausdruck eines Redners kann den Gehalt seiner Rede bedeutend beeinflussen, im positiven wie negativen Sinn. Ein Redner hat so einen verfassungsmässigen Anspruch darauf, seine gesamte Persönlichkeit nach seiner Wahl der Mittel in eine Rede einzubringen. Dem steht eine (partielle) Maskentragpflicht im Grundsatz entgegen.»62 Ob im Normalfall angesichts der Distanz der Rednerinnen und Redner von den übrigen Demonstrierenden bei Fehlens einer Projektion auf eine Grossleinwand der Gesichtsausdruck der Rednerin oder des Redners vom Publikum erkannt werden kann und damit die Überlegungen des Verwaltungsgerichts Schwyz zum Tragen kommen können, kann offen bleiben. Bei der jeweils Vortragenden Person kann die Maskenpflicht in der Regel durch einen Sicherheitsabstand von mindestens 2 Metern ersetzt werden, der einen weitgehend gleichwertigen Schutz bietet, aber eine mildere Massnahme darstellt und damit die Zumutbarkeit erhöht. Art. 3b Abs. 2 Bst. f Covid-19-Verordnung besondere Lage sieht ohnehin vor, dass «auftretende Personen» von der Pflicht zum Tragen der Maske befreit sind. In Abweichung von Art. 6c Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage dürfen somit Rednerinnen und Redner an Demonstrationen während ihres Vortrags – und nur dann – die Maske abnehmen und ohne Maske sprechen, wenn ein genügender Abstand Publikum und zu den anderen auf der Bühne stehenden Rednerinnen und Redner besteht. Es wäre wünschenswert, wenn der Bundesrat Art. 6c Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage in diesem Sinne präzisieren würde.

4.4.3 Grundsätzliche Überlegungen zur Verhältnismässigkeit weiterer Einschränkungen

Angesichts der bestehenden bundesrechtlichen Regelungen können die Kantone unter bestimmten Voraussetzungen für Demonstrationen ergänzende Massnahmen anordnen.63 Die Durchführung von Demonstrationen im öffentlichen Raum untersteht aber im Übrigen kantonalem (Polizei-)Recht; im Rahmen der Beurteilung des Bewilligungsgesuchs kann die zuständige kantonale Behörde deshalb Auflagen machen, die auch solche, die dem Schutz vor Infektionen dienen.64

Bei solchen Einschränkungen ist in Betracht zu ziehen, welche Massnahmen bzw. welche Kombinationen von Massnahmen bei möglichst tiefer Eingriffsintensität bzw. hoher Zumutbarkeit eine optimale Schutzwirkung entfalten. Dazu können Erkenntnisse aus wissenschaftlichen Untersuchungen dienen. Forscher sind in einer im November 2020 erstveröffentlichten und im Dezember 2020 publizierten Studie zum Ergebnis gelangt, dass Versammlungen bzw. Menschenansammlungen einerseits in lineare (die Ansteckungen können nur linear zwischen jeweils zwei Personen erfolgen) und gesättigte (die Menschen stehen gedrängt, haben alle gegenseitig Kontakt und können sich anstecken) sowie andererseits in statische (die Menschen bewegen sich im Zeitablauf wenig) und dynamische («mixing», die Menschen bewegen sich ständig) und damit in einer Matrix in vier Kategorien eingeteilt werden können:65

  • Linear und statisch: beispielsweise (kleine) Haushalte, Taxis, Arzt- und Therapiebesuche, Coiffeur, persönliche Pflege (zu Hause) und Restaurants mit grosszügigen Tischabständen.
  • Linear und dynamisch: beispielsweise Wandern und andere Outdoor-Aktivitäten, Parks, Golfspiel, öffentlicher Verkehr mit Masken, geräumige Büros und Konzerte.
  • Gesättigt und statisch: beispielsweise kleine Partys/Feste, Restaurantküchen, Chöre, zu eng besetzte Büros.
  • Gesättigt und dynamisch: beispielsweise Schulen (insb. mit Fachunterricht und Wechsel der Klasenzimmer), Bars und Nachtclubs und «überbevölkerte» Arbeitsplätze.

Demonstrationen gehören mit Ausnahme von Sitzstreiks zur Kategorie der gesättigten und dynamischen Veranstaltungen. Sitzstreiks gehören dann, wenn sie straff organisiert sind und alle Teilnehmenden in getrennten Gruppen an fest zugewiesenen Plätzen sitzen und diese individuell beziehen und verlassen, zur Kategorie der linear und statischen Veranstaltungen. Daraus ergibt sich schon mal die Erkenntnis, dass Sitzstreiks einerseits und übrige Formen von Demonstrationen andererseits hinsichtlich Einschränkungen unterschiedlich zu Beurteilen und zu Behandeln sind.

Angeordnete Abstandsvorschriften haben in allen Kategorien eine erhebliche Wirkung zur Verhinderung der Übertragung des SARS-CoV-2 Virus.66 Leider ist es weitgehend illusorisch bei Demonstrationszügen oder bei grösseren Platzdemonstrationen Abstandsvorschriften einhalten zu wollen – dies zeigen zahlreiche Beispiele im In- und Ausland.

Abgesehen davon könnte aber ein geeigneter Mix von Einschränkungen insgesamt zu einer höheren Zumutbarkeit führen.

4.4.4 Zur Verhältnismässigkeit von Personenbeschränkungen

Angesichts der Gefährlichkeit von Covid-19 und angesichts er Tatsache, dass wissenschaftlich belegt ist, dass die Beschränkung von Versammlungen auf 10 und weniger Personen eine hochwirksame Massnahme zur Bekämpfung der Krankheit ist67 und dass davon auszugehen ist, dass alleine mit der Kombination der Massnahmen der Schliessung von Schulen und Universitäten, der Schliessung von risikobehafteten Berufstätigkeiten und Geschäften sowie der Einschränkung von Versammlungen auf unter 10 Personen der R-Wert unter 1 gebracht werden könnte,68 ist davon auszugehen, dass eine Beschränkung von Demonstrationen auf höchstens 15 oder 20 Personen als Eingriff geeignet und erforderlich ist. Angesichts der Tatsache, dass zwischen Sitzstreiks und anderen Formen der Demonstration unterschieden werden muss69 und dass mit einem wissenschaftsbasierten Mix von Massnahmen die Schutzziele allenfalls ebenso gut erreicht werden können,70 erscheinen fixe Obergrenzen von Teilnehmenden im unteren Zahlenbereich, wie diese die Kantone Bern und Zürich kennen (15 Personen), unverhältnismässig (und damit verfassungswidrig). Solche tiefen Grenzwerte lassen den für die Bewilligung zuständigen Behörden wie auch den Organisatorinnen und Organisatoren keinen Ermessensspielraum zur Erreichung eines optimalen Schutzes vor der Übertragung des SARS-CoV-2 Virus. Allerdings sind auch nicht Demonstrationen mit einem grossen Teilnehmerfeld notwendig, damit mit der Kundgebung gegenüber den Medien die notwendige Aufmerksamkeit für ein Anliegen erreicht werden kann.71 Eine zahlenmässige Beschränkung auf 300 Personen, wie sie der Kanton Uri kennt, muss demgegenüber als zumutbar betrachtet werden, hat aus epidemiologischer Sicht aber nur noch eine mittelmässige Wirksamkeit zur Epidemienbekämpfung72 und ist damit suboptimal. Es gilt mithin die für eine bestimmte Demonstration zulässige Grösse im Rahmen eines Optimierungsprozesses in Abhängigkeit von andere, weiteren Einschränkungen als Auflagen73 festzulegen. Die untere Grenze der Zumutbarkeit des Eingriffs der Beschränkung der Anzahl Personen bei Demonstrationen, bei der auch eine strikte Maskenpflicht gilt (Art. 6c Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage) dürfte irgendwo zwischen 50 und 100 Personen liegen.74

Bei Sitzstreiks und Flashmobs in kleinen Gruppen (d.h. 5-10 Personen) stellt sich weiter die Frage, ab welcher Distanz zwischen den einzelnen Sitzstreik- oder Flashmob-Gruppen (epidemiologisch) von mehr als einer Demonstration auszugehen ist, da die teilnehmenden Personen sowohl während der Dauer der Aktion wie auch vor- und nachher kaum miteinander in Kontakt kommen werden, dies u.a. auch deshalb, weil ausserhalb von Demonstrationen Personenansammlungen von mehr als 15 Personen bundesrechtlich verboten sind (Art. 3c Abs. 1 Covid-19-Verordnung besondere Lage).

4.4.5 Andere Beschränkungen von Demonstrationen als Auflagen

Ausgehend von der bundesrechtlichen Maskenpflicht als feste Vorgabe und von der zulässigen Anzahl Teilnehmenden als Variable kann mit zusätzlichen Massnahmen – allenfalls in einem Massnahmen-Mix – eine Optimierung dahingehend erfolgen, dass mehr Personen an der Demonstration teilnehmen können ohne dass die Ansteckungsgefahr (d.h. der R-Wert für die konkrete Demonstration) steigt:

  • Abstandsvorschriften: Vorgaben zu minimalen Abständen zwischen den Teilnehmenden an Demonstrationen haben theoretisch eine gute Schutzwirkung, können bei Demonstrationszügen und bei grösseren Platzdemonstrationen aber kaum eingehalten und durchgesetzt werden.75 Bei Sitzstreiks können aber Abstände von 1.5 Metern oder mehr innerhalb einer sitzenden Gruppe von Demonstrierenden eine zusätzliche Verhinderung von Infektionen bewirken, machen demnach Sinn und sind verhältnismässig.
  • Zeitliche Beschränkung: Demonstrationen können in ihrer Zeitdauer Beschränkt werden. Bei allen Demonstrationstypen nimmt die Wahrscheinlichkeit von Ansteckungen mit zunehmender Zeitdauer der Veranstaltung zu.76 Die politische und Mediale Wirkung von Demonstrationen hängt nicht von der Dauer ab, so lange in den Referaten einer Platzdemonstration alles gesagt werden kann, was gesagt werden muss. Mithin kann die zeitliche Beschränkung eine verhältnismässige Massnahme sein.
  • Blasen- bzw. Sektorbildung: Die Bildung von Blasen bzw. Sektoren (englisch «bubbling») ist gerade bei der Kategorie der gesättigten und dynamischen Versammlungen eine sehr wirksame Massnahme zur Verhinderung der Übertragung des SARS-CoV-2 Virus.77 Somit ist diese Massnahme auch bei Demonstrationen geeignet. Wenn bei Platzdemonstration (z.B. auf dem Bundsplatz) mittels Abschrankungen mehrere Sektoren gebildet werden können, die in einem gewissen Anstand zu einander stehen (z.B. 5 m) und von denen die Teilnehmenden nicht in einen andern Sektor wechseln können und zu denen die Teilnehmenden auch je separate Aufmarsch und Abmarschrouten haben, dann wird dieselbe Wirkung erreicht, wie wenn an drei verschiedenen Orten je eine Demonstration mit der Teilnehmerzahl des Sektors stattfinden würden. Eine Sektorbildung in Verbindung mit oder ohne Aufnahme von Kontaktdaten erleichtert zudem das Contact Tracing.78 Die Sektorbildung stellt für die gewöhnlichen Teilnehmerinnen und Teilnehmer an einer Demonstration weitestgehend keine Beschränkung der Versammlungs- und Meinungsfreiheit dar und ist als Eingriff ohne weiteres zumutbar. Für die Organisatorineen und Organisatoren entsteht ein gewisser Mehraufwand, der aber angesichts der Wirkung der Massnahme und angesichts der Möglichkeit, so Demonstrationen mit mehr Teilnehmenden durchzuführen zumutbar. Auch Demonstrationszüge lassen sich durch Bildung von Marschgruppen mit geregelten Abständen im Übrigen sektorisieren.
  • Erhebung von Kontaktdaten: Die Kantone können gestützt auf Art. 8 Abs. 1 Bst. b Covid-19-Verordnung besondere Lage zur Unterstützung des Contact Tracings regeln, dass von den Teilnehmenden an der Demonstration die Kontaktdaten erhoben werden. Diese Massnahme ist datenschutzrechtlich heikel, da die Teilnahme an Demonstrationen auf eine politische Meinung oder auf eine Gesinnung schliessen lässt und es sich somit um besonders schützenswerte Personendaten handelt. Es ist mithin wegen des Grundrechtseingriffs (Art. 13 Abs. 2 BV) im kantonalen Recht eine Regelung mindestens auf der Stufe einer Regierungsverordnung, allenfalls sogar einer Parlamentsverordnung notwendig. Die Massnahme ist bei einem im Kanton überlasteten Contact Tacing geeignet (insbesondere in Verbindung mit der Sektorbildung) und erforderlich. Solange die Daten durch die Organisatorinnen bzw. Organisatoren und nicht durch den Staat erhoben werden, ist der Eingriff zumutbar; den Veranstalterinnen und Veranstalter dürfen gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung gewisse Mitwirkungspflichten auferlegt werden.79

4.5 Unterminierung von Schutzmassnahmen als Rechtsmissbrauchs

Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung darf nicht massgebend sein, ob die von den Demonstranten vertretenen Auffassungen und Anliegen der zuständigen Behörde mehr oder weniger wertvoll erscheinen.80 Demgegenüber hat das Bundesgericht unmissverständlich festgehalten, die öffentliche Ordnung lasse keinen Raum für Demonstrationen, die mit rechtswidrigen Handlungen verbunden sind oder einen gewalttätigen Zweck verfolgen.81 An zahlreichen bisherigen Demonstration von Gegnern der Staatlichen Massnahmen zur Bekämpfung von Covid-19 wurde die Masken Pflicht von Teilen der Demonstrierenden – in gewissen Fällen von der Mehrheit der Demonstrierenden – nicht beachtet; diese nahmen ohne Maske an der Demonstration teil. Angesichts der hohen Ansteckungsgefahr und der Gefährlichkeit von Covid-19 stellt ein solches Verhalten eine erhebliche Gefahr für die Gesundheit der Demonstrierenden selber aber auch für die Gesundheit von Dritten dar. Zudem werden die behördlichen Massnahmen zur Eindämmung der Pandemie bewusst unterlaufen. Er an einer politischen oder zivilgesellschaftlichen Kundgebung oder einer Unterschriftensammlung vorsätzlich oder fahrlässig keine Gesichtsmaske trägt, begeht eine Straftat (Art. 13 Bst. i Covid-19-Verordnung besondere Lage). Bei Demonstrationen mit einer grossen Zahl von Teilnehmerinnen und Teilnehmer oder bei bestimmten örtlichen Gegebenheiten (z.B. auf einem Platz, auf welchem die Teilnehmenden dicht bis an die Hausfassaden stehen) ist es der Polizei in der Regel nicht möglich, gegen die Personen, welche das Tragen der Maske verweigern, gezielt vorzugehen. Wenn wie bei der Demonstration in Liestal das Gros der Personen, welche gegen die Maskentragpflicht verstossen haben straffrei ausgehen, gleichzeitig aber immer wieder Inhaberinnen und Inhaber von Ladengeschäften bei Verstössen bzw. vermeindlichen Verstössen gegen die Covid-19-Gesetzgebung Strafverfahren riskieren, dann ist der Rechtsfriede in Gefahr.82

Angesichts dieser Ausgangslage darf die Behörde, welche Demonstrationen bewilligt, bei der Rechtsgüterabwägung mit berücksichtigen, ob begründeter Anlass zur Annahme dahingehend besteht, dass die Maskenpflicht oder andere Auflagen für die Durchführung einer Demonstration in grösserem Ausmass verletzt werden wird, und entsprechend der Güterabwägung allenfalls verfügen,

  • dass die Organisatorinnen oder Organisatoren auf eigene Kosten einen Ordnungsdienst einsetzen müssen;
  • dass die zulässige Höchstzahl der Teilnehmenden so weit herabgesetzt wird, dass die örtliche Polizei bei strafbaren Handlungen gezielt eingreifen kann; oder
  • dass die Demonstration nicht bewilligt wird (als ultima ratio).

5. Fazit

Zusammenfassend kann folgendes festgehalten werden:

  • Die Demonstrationsfreiheit hat auch heute hinsichtlich des demokratischen Systems der Schweiz eine erhebliche Bedeutung, allerdings nicht mehr jene Bedeutung, die ihr vielfach zugeschrieben wird.
  • Es muss heute davon ausgegangen werden, dass die Maskenpflicht eine wirksame und weitgehend anerkannte Massnahme zur Verhinderung der Übertragung des SARS-CoV-2 Virus ist.
  • Damit kann festgehalten werden, dass die in Art. 6c Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage verankerte Maskenpflicht bei allen Demonstrationen grundsätzlich verfassungskonform ist. Rednerinnen und Redner an Demonstrationen dürfen aber während ihres Vortrags die Maske abnehmen und ohne Maske sprechen (siehe auch Art. 3b Abs. 2 Bst. f Covid-19-Verordnung besondere Lage).
  • Man kann davon ausgehen, dass die Beschränkung der Anzahl Teilnehmenden an Versammlungen auf unter 10 Personen eine signifikant hohe, die Beschränkung der Anzahl Teilnehmenden an Versammlungen auf unter 100 Personen eine mittlere bis hohe und die Beschränkung der Anzahl Teilnehmenden an Versammlungen auf unter 1'000 Personen eine schwache bis mittlere Wirkung zur Eindämmung von Coviod-19 hat.
  • Es ist mithin davon auszugehen, dass eine Beschränkung von Demonstrationen auf höchstens 15 oder 20 Personen als Eingriff geeignet und erforderlich ist. Angesichts der Tatsache, dass zwischen Sitzstreiks und anderen Formen der Demonstration unterschieden werden muss und dass mit einem wissenschaftsbasierten Mix von Massnahmen die Schutzziele allenfalls ebenso gut erreicht werden können, erscheinen fixe Obergrenzen von Teilnehmenden im unteren Zahlenbereich, wie diese die Kantone Bern und Zürich kennen (15 Personen), unverhältnismässig und damit verfassungswidrig.
  • Das Bundesrecht schliesst ein generelles Demonstrationsverbot durch die Kantone aus.
  • Ausgehend von der bundesrechtlichen Maskenpflicht als feste Vorgabe und von der zulässigen Anzahl Teilnehmenden als Variable kann mit zusätzlichen Massnahmen – allenfalls in einem Massnahmen-Mix – eine Optimierung dahingehend erfolgen, dass mehr Personen an der Demonstration teilnehmen können ohne dass die Ansteckungsgefahr (d.h. der R-Wert für die konkrete Demonstration) steigt. Als solche Massnahmen kommen in Frage: Abstandsvorschriften, zeitliche Beschränkungen, die Bildung von Sektoren und die Erfassung von Kontaktdaten.
  • Zusätzliche kantonale Einschränkungen der Demonstrationsfreiheit müssen die Form einer generell-abstrakten Rechtsnorm aufweisen – irgendwelche Allgemeinverfügungen, genügen dem Anspruch von Art. 36 Abs. 1 BV nicht. Es muss zudem immer auch überprüft werden, ob die Voraussetzungen nach Art. 8 Abs. 1 Covid-19-Verordnung besondere Lage und damit die Rechtsetzungszuständigkeit des Kantons gegeben ist.

Mag. rer. publ. Daniel Kettiger ist Berater, Rechtsanwalt und Justizforscher in Thun

  1. 1Unter dem Begriff der «Demonstrationen» sind in diesem Beitrag politische und zivilgesellschaftliche Kundgebungen zu verstehen. Die deutsche Bundeszentrale für politische Bildung beschreibt Demonstrationen treffend wie folgt: «Im politischen Sprachgebrauch werden als Demonstrationen (D) insbesondere öffentliche Versammlungen verstanden, die, meist unter freiem Himmel, als Aufzüge oder Kundgebungen die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu wecken und/oder ihre Unterstützung für bestimmte Forderungen unter Beweis zu stellen oder zu erreichen suchen.», https://www.bpb.de/nachschlagen/lexika/handwoerterbuch-politisches-system/202007/demonstration (alle Weblinks in diesem Beitrag zuletzt besucht am 29.03.2021).
  2. 2Vgl. etwa Berichterstattung der Berner Zeitung https://www.bernerzeitung.ch/fuer-klimagerechtigkeit-sitzend-und-corona-konform-628484406139.
  3. 3Vgl. Handelszeitung https://www.handelszeitung.ch/politik/corona-demos-8000-teilnehmende-in-liestal-600-anzeigen-in-bern.
  4. 4Vgl. Südostschweiz https://www.suedostschweiz.ch/politik/2021-03-23/keine-strafe-fuer-organisatoren-des-corona-demo-in-liestal.
  5. 5Vgl. Medienmitteilung vom 25. März 2021 https://www.ur.ch/mmdirektionen/77066.
  6. 6Reglement zur Bekämpfung der Verbreitung des Coronavirus (COVID-19-Reglement), RB 30.2217).
  7. 7Vgl. Medienmitteilung vom 26. März 2021 https://www.ur.ch/mmregierungsrat/77189.
  8. 8Vgl. die Äusserungen von Prof. Dr. Andreas Glaser, Ordinarius für Staats-, Verwaltungs- und Europarecht unter besonderer Berücksichtigung von Demokratiefragen an der Universität Zürich, gegenüber 20minuten https://www.20min.ch/story/demokratie-experte-wuenscht-sich-einen-bundesgerichts-entscheid-597083876552.
  9. 9Vgl. Anfrage 20.1021 Salzmann «Verletzung der Corona-Auflagen durch unbewilligte Demonstrationen. Was tut der Bundesrat?», https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20201021; Interpellation 20.3624 Carroni «Gelten die Corona-Regeln eigentlich noch für alle?», https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20203624; Interpellation 20.3629 Feller «Coronavirus. Gelten die Verordnungen des Bundesrates zum Schutz der öffentlichen Gesundheit für alle gleich?», https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20203629.
  10. 10Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, SR 101.
  11. 11Vgl. Giovanni Biaggini, Kommentar BV, 2. Aufl., Art. 16, Rz. 3 und Art. 22 Rz. 6, unter Hinweis auf BGE 96 I 219, S. 224, BGE 132 I 256 E.3, BGE 127 I 164 E. 3 und BGE 107 Ia 226, S. 230.
  12. 12Samuel Rutz/Matteo Mattmann/Ann-Kathrin Crede/Michael Funk/Anja Siffert/Melanie Häner, Wirksamkeit nicht-pharmazeutischer Massnahmen zur Eindämmung des Coronavirus – Eine Übersicht, Grundlagen für die Wirtschaftspolitik Nr. 15, Staatssekretariat für Wirtschaft SECO, Bern 2000, S. 24.
  13. 13Jan M. Brauner et al, Inferring the effectiveness of government interventions against COVID-19, Science 371, 802 (2021), https://doi.org/10.1126/science.abd9338, Summary.
  14. 14Jan M. Brauner et al (Fn. 13), S. 3.
  15. 15Vgl. Richard A.J. Post et al., How did governmental interventions affect the spread of COVID-19 in European countries?, BMC Public Health 21, 411 (2021). https://doi.org/10.1186/s12889-021-10257-2; Nils Haug et al., Ranking the effectiveness of worldwide COVID-19 government interventions. Nat Hum Behav 4, 1303–1312 (2020). https://doi.org/10.1038/s41562-020-01009-0.
  16. 16Vgl. Yang Liu/Christian Morgenstern/James Kelly et al., The impact of non-pharmaceutical interventions on SARS-CoV-2 transmission across 130 countries and territories. BMC Med 19, 40 (2021). https://doi.org/10.1186/s12916-020-01872-8.
  17. 17Der Begriff der «Gesichtsmasken» wir im vorliegenden Beitrag als Oberbegriff für die zur Verhinderung der Übertragung von Covid-19 verwendeten Hygienemasken, medizinischen Masken, Stoffmasken und FFP2-Masken verwendet.
  18. 18Vgl. Rutz et al. (Fn. 12), S. 20.
  19. 19Vgl. Rutz et al. (Fn. 12), Zusammenfassung.
  20. 20Vgl. beispielsweise Steffen E. Eikenberry et al., To mask or not to mask: Modeling the potential for face mask use by the general public to curtail the COVID-19 pandemic, KeAI, Infectious Disease Modelling 5 (2020) 293-308, https://doi.org/10.1016/j.idm.2020.04.001, S. 293: «Our results suggest use of face masks by the general public is potentially of high value in curtailing community transmission and the burden of the pandemic. The community-wide benefits are likely to be greatest when face masks are used in conjunction with other non-pharmaceutical practices (such as social-distancing), and when adoption is nearly universal (nation-wide) and compliance is high.»; vgl. auch Jeremy Howard et al., Face Masks against COVID-19: An Evidence Review, Preprints, https://doi.org/10.20944/preprints202004.0203.v1.
  21. 21Vgl. beispielsweise Derek K. Chu et al., Physical distancing, face masks, and eye protection to prevent person-to-person transmission of SARS-CoV-2 and COVID-19: a systematic review and meta-analysis, Lancet 2020; 395: 1973–87, https://doi.org/10.1016/S0140-6736(20)31142-9, S. 1973; John T. Brooks/Jay C. Butler, Effectiveness of Mask Wearing to Control Community Spread of SARS-CoV-2, JAMA March 9, 2021 Volume 325, Number 10.
  22. 22Vgl. Christoph Josef Hemmer et al., Schutz vor COVID-19: Wirksamkeit des Mund-Nasen-Schutzes, Dtsch Arztebl Int 2021; 118: 59–65. DOI: 10.3238/arztebl.m2021.0119, S. 59 (siehe auch S. 64).
  23. 23Vgl. Entscheid vom 03.12.2020 im Verfahren AN.2020.00016, E. 6.5.1-6.5.4.
  24. 24Vgl. Entscheid vom 03.12.2020 im Verfahren AN.2020.00016, E. 6.5.3.
  25. 25Vgl. beispielsweise Urteil des Verwaltungsgerichts Karlsruhe Az: 3 K 4560/20 vom 12. November 2020 (siehe https://www.anwaltonline.com/corona-virus/urteile/25756/erweiterte-maskenpflicht-bestaetigt); Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg, Medienmitteilung vom 17. März 2021, https://www.berlin.de/gerichte/oberverwaltungsgericht/presse/pressemitteilungen/2021/pressemitteilung.1066023.php.
  26. 26Vgl. Biaggini (Fn. 11), Art. 16, Rz. 3 und Art. 22 Rz. 6, unter Hinweis auf BGE 96 I 219, S. 224, BGE 132 I 256 E.3, BGE 127 I 164 E. 3 und BGE 107 Ia 226, S. 230; vgl. auch Yvo Hangsrtner/Andreas Kley-Struller, Demonstrationsfreiheit und Rechte Dritter, ZBl 3/1995, S. 101-116.
  27. 27BGE 132 I 256 E. 3, mit Hinweis auf BGE 127 I 164 E. 5.
  28. 28§ 6 Abs. 2 Bst. d der Verfassung des Kantons Basel-Landschaft vom 17. Mai 1984 (SGS 100) nennt beispielsweise die «Kundgebungsfreiheit als Freiheitsrecht», ebenso Art. 8 Bst. g der Constitution de la République et Canton du Jura vom 20. März 1977 (RSJU 101); Art. 9 Abs. 2 der Verfassung des Kantons Bern vom 6. Juni 1993 (BSG 101) verankert zwar das Kundgebungsrecht, lässt aber auch Einschränkungen ausdrücklich zu: «Kundgebungen auf öffentlichem Grund können durch Gesetz oder Gemeindereglement bewilligungspflichtig erklärt werden. Sie sind zu gestatten, wenn ein geordneter Ablauf gesichert und die Beeinträchtigung der anderen Benutzerinnen und Benutzer zumutbar erscheint.»
  29. 29Verordnung über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie (Covid-19-Verordnung besondere Lage) vom 19. Juni 2020, SR 818.101.26., in der am 29. März 2021 und seit 29. Oktober 2020 geltenden Fassung gemäss Ziff. I der Verordnung vom 28. Oktober 2020, AS 2020 4503.
  30. 30AS 2020 2213, dort Art. 6 Abs. 4.
  31. 31In diesem Sinne auch Bundesamt für Gesundheit (BAG), Erläuterungen zur Verordnung vom 19. Juni 2020 über Massnahmen in der besonderen Lage zur Bekämpfung der COVID-19-Epidemie (Covid-19-Verordnung besondere Lage; SR 818.101.26) Version vom 22. März 2021, S. 22.
  32. 32Bundesgesetz über die Bekämpfung übertragbarer Krankheiten des Menschen (Epidemiengesetz, EpG) vom 28. September 2012, SR 818.101.
  33. 33Vgl. Biaggini (Fn. 11), Art. 118, Rz. 6 und 15 ff.
  34. 34Die Erläuterungen des BAG (Fn. 31) gehen zwar davon aus, Art. 8 Abs. 2 Covid-19-Verordnung besondere Lage habe nur deklaratorischen Charakter, dies trifft aber nach Auffassung des Verfassers wegen der dargestellten Verhältnisse der Rechtsetzungskompetenz nicht zu. Die Bestimmung hat originär rechtsetzenden Charakter.
  35. 35Art. 6a der Verordnung über Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie (Covid-19 V) vom 4. November 2020 (BSG 815.123), in der Fassung vom 18. Dezember 2020 (BAG 20-138).
  36. 36§ 7 der Verordnung über Massnahmen zur Bekämpfung der Covid-19-Epidemie (V Covid-19) vom 24. August 2020 (LS 818.18).
  37. 37Reglement zur Bekämpfung der Verbreitung des Coronavirus (COVID-19-Reglement), RB 30.2217).
  38. 38Antwort des Bundesrats vom 26. August 2020 auf die Interpellation 20.3629 Feller «Coronavirus. Gelten die Verordnungen des Bundesrates zum Schutz der öffentlichen Gesundheit für alle gleich?», https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20203629.
  39. 39Vgl. Claudia Winkler, Bewilligung von Veranstaltungen im öffentlichen Raum, Masterarbeit eingereicht der Universität Bern im Rahmen des Executive Master of Public Administration (MPA), Bern 2013, S. 8 f.; John Hartley, The politics of pictures the creation of the public in the age of popular media, London 1992: «The classical Roman forum (Greek agora) was the place of citizenship, an open space where public affairs and legal disputes were conducted, and it was also a marketplace, a place of pleasurable jostling, where citizens’ bodies, words, actions and produce were all literally on mutual display, and where judgements, decisions and bargains were made.»
  40. 40Siehe dazu etwa Winkler (Fn. 39), S. 12; vgl. auch Jeroen van Laer/Peter van Aelst, Cyber-protest an vivil society, in: Yvonne Jewkes/Majid Yar (Hrsg.), Handbook of Internt Crime, London 2010, S. 230-254; Anne Zimmermann, Online-Öffentlichkeit und Zivilgesellschaft: neue Chancen auf massenmediale Sichtbarkeit?, Forschungsjournal NSB, Jg. 19, 2/2006, S. 22-32; Tareq Sydiq, Vom Protest- zum Quarantänejahr: Neue Arenen der Konfliktaushandlung. Z Friedens und Konflforsch 9, 351–362 (2020). https://doi.org/10.1007/s42597-020-00047-9.
  41. 41Vgl. Daniel Mullis, Protest in Zeiten von Covid-19: Zwischen Versammlungsverbot und neuen Handlungsoptionen, Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Jg. 33, Heft 2.2020; Sabrina Zajak, Protest und soziale Bewegungen in Corona-Zeiten, https://www.dezim-institut.de/in-den-medien/prof-dr-sabrina-zajak-protest-und-soziale-bewegungen-in-corona-zeiten/.
  42. 42Vgl. Zajak (Fn. 41).
  43. 43Vgl. BGE 132 I 256 E. 3, mit Hinweis auf BGE 127 I 164 E. 5.
  44. 44Vgl. Biaggini (Fn. 11), Art. 22, Rz. 13 und 14.
  45. 45Vgl. oben Ziff. 3.3.
  46. 46Vgl. Biaggini (Fn. 11), Art. 36, Rz. 10, mit weiteren Hinweisen.
  47. 47Vgl. Biaggini (Fn. 11), Art. 36, Rz. 10, mit weiteren Hinweisen.
  48. 48Vgl. dazu oben Ziff. 3.2.
  49. 49Beispielsweise durch eine genügende Delegationsnorm im kantonalen Gesundheits- oder Epidemiengesetz, durch eine Verfassungsnorm, die zum Erlass von Notrecht ermächtigt oder durch eine Verfassungsnorm, die zur vorläufigen dringlichen Umsetzung von Bundesrecht ermächtigt.
  50. 50Siehe dazu unten Ziff. 4.4.2.
  51. 51Vgl. Biaggini (Fn. 11), Art. 10, Rz. 6.
  52. 52Vgl. Biaggini (Fn. 11), Art. 36, Rz. 23.
  53. 53Vgl. Hangartner/Kley-Struller (Fn. 26), S. 107.
  54. 54Vgl. Hangartner/Kley-Struller (Fn. 26), S. 108.
  55. 55Vgl. Hangartner/Kley-Struller (Fn. 26), S. 109.
  56. 56Vgl. BGE 132 I 256 E. 3.
  57. 57Vgl. BGE 132 I 256 E. 3; Hangartner/Kley-Struller (Fn. 26), S. 110.
  58. 58Vgl. oben Ziff. 2.2.
  59. 59Auch das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich sieht keinen Eingriff in die Meinungsfreiheit, vgl. Entscheid vom 03.12.2020 im Verfahren AN.2020.00016, E. 6.2.
  60. 60Gleicher Auffassung das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, vgl. Entscheid vom 03.12.2020 im Verfahren AN.2020.00016, E. 6.5.4.
  61. 61Das Singen vor Publikum und mit dem Publikum an Demonstrationen ist gemäss Art. 6f Covid-19-Verordnung besondere Lage nicht zulässig.
  62. 62Verwaltungsgericht des Kantons Schwyz, Urteil vom 7. Januar 2021 im Verfahren III 2020 212, E. 3.1.
  63. 63Vgl. oben Ziff. 3.2 und 4.2.
  64. 64Vgl. Erläuterungen des BAG (Fn. 31), S. 22.
  65. 65Vgl. Paul Tupper et al., Event-specific interventions to minimize COVID-19 transmission, PNAS, December 15 , 2020, vol. 117, no. 50, S. 32038–32045, insb. S. 32043 ff und Abbildung 5.
  66. 66Vgl. Tupper et al., (Fn. 65), S. 32043.
  67. 67Jan M. Brauner et al (Fn. 13), S. 3 und 4.
  68. 68Jan M. Brauner et al (Fn. 13), S. 3.
  69. 69Vgl. oben Ziff. 4.4.3.
  70. 70Vgl. oben Ziff. 4.4.3.
  71. 71Vgl. oben Ziff. 3.3.
  72. 72Jan M. Brauner et al (Fn. 13), S. 1.
  73. 73Siehe unten Ziff. 4.4.5.
  74. 74Einer Beschränkung von Versammlungen auf höchstens 100 Personen wird von der Wissenschaft immerhin noch eine mittlere bis hohe Wirksamkeit attestiert, vgl. Jan M. Brauner et al (Fn. 13), S. 1.
  75. 75Vgl. oben Ziff. 4.4.3.
  76. 76Vgl. Tupper et al., (Fn. 65), S. 32040, Abbildung 2.
  77. 77Vgl. Tupper et al., (Fn. 65), S. 32044 (der R-Wert der Veranstaltung kann allenfalls von 1.0 auf 0.2 gesenkt werden); die Sektorbildung wird immer wieder auch für grosse Sportveranstaltungen in Erwägung gezogen.
  78. 78Vgl. Tupper et al., (Fn. 65), S. 32044.
  79. 79BGE 132 I 256 E. 4.4.3.
  80. 80BGE 132 I 256 E. 3; BGE 127 I 164 E. 3b.
  81. 81BGE 132 I 256 E. 3.
  82. 82Siehe z.B. https://www.badenertagblatt.ch/aargau/baden/aldi-filialleiterin-wegen-verstoss-gegen-covid-19-verordnung-angeklagt-muss-sie-10-000-franken-zahlen-ld.2076381.

5 Kommentare

  • 1

    Schema zur Prüfung von Demonstrationsgesuchen in Zeiten der Covid-19-Pandemie

    Gestützt auf den obigen Beitrag wurde ein Schema zur Prüfung von Demonstrationsgesuchen in Zeiten der Covid-19-Pandemie erarbeitet. Dieses ist unter dem folgenden Link abrufbar: https://www.kettiger.ch/fileadmin/user_upload/Dokumente/Downloads/Kettiger_Pruefschema_Demo_unter_COVID19.pdf

    avatarDaniel Kettiger12.04.2021 18:13:01Antworten

  • 2

    Zum Begriff «faktisches Demonstrationsverbot»

    Im Zusammenhang mit den Beschränkungen von Demonstrationen auf 15 Personen in den Kantonen Bern und Zürich tauchte in der öffentlichen Diskussion der Begriff «faktisches Demonstrationsverbot» auf. Dieser wurde in den Medien (insbesondere den TA-Medien, z.B. «Der Bund») unreflektiert kolportiert. Der Begriff ist ein Schlagwort mit politischem Zweck – rechtlich ist er falsch. Auch mit 15 Personen lässt sich auf öffentlichem Grund eine Demonstration durchführen, die eine bestimmte Appellwirkung erreichen kann. Wenn ich im obenstehenden Beitrag zum Schluss komme, dass eine Beschränkung der Anzahl Teilnehmenden auf 15 Personen unverhältnismässig ist und das Verhältnismässigkeitsverbot verletzt, so ist dies zwar rechtlich bedenklich, hat aber nichts mit einem «faktischen Demonstrationsverbot» zu tun.

    avatarDaniel Kettiger18.04.2021 16:22:51Antworten

  • 3

    Die Kantone Bern und Zürich ändern die zulässige Anzahl Teilnehmende

    Die Kantone Bern und Zürich habe auf die öffentliche Kritik an ihren Regelungen und auf die eingereichten Beschwerden reagiert und die zulässige Anzahl von Teilnehmenden an Demonstrationen auf 100 erhöht. Die Beschränkung auf 100 Personen macht epidemiologisch Sinn (siehe im obigen Blog-Beitrag). Die Beschränkung von Versammlungen auf 100 Personen ist noch immer eine wirksame Massnahme zur Eindämmung von Covid-19. Mit 100 Personen lässt sich auch eine Demonstration organisieren, die genügend Appellwirkung hervorruft. Mit einem geeigneten Setting (z.B. Sektorenbildung) könnten aber wohl auch Platzdemonstrationen mit 200 Personen bewilligt werden, ohne dass das Potenzial von Virusübertragungen erheblich steigt.

    avatarDaniel Kettiger18.04.2021 16:24:03Antworten

  • 4

    Verwaltungsgerichtsurteil im Kanton Zürich

    Mit Urteil vom 29. April 2021 (AN.2021.00003) hiess die 3. Abteilung des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich (als Verfassungsgericht) eine Beschwerde gut und stellte fest, «dass § 7 V Covid-19 in der mit Regierungsratsbeschluss vom 19. März 2021 verlängerten Fassung, wonach Kundgebungen mit mehr als fünfzehn Personen im öffentlichen Raum verboten sind, gegen übergeordnetes Recht verstösst.» Nach Auffassung des Verwaltungsgerichts «stellt das Verbot von politischen und zivilgesellschaftlichen Kundgebungen mit mehr als 15 Teilnehmenden einen unverhältnismässigen und demzufolge gemäss Art. 36 Abs. 3 BV unzulässigen Eingriff in die verfassungsrechtlich geschützte Meinungs- und Versammlungsfreiheit dar.» Es genügt eine Bewilligungspflicht und die Möglichkeit, eine Bewilligung mit gesundheitspolizeilich motivierten Auflagen zu versehen. Das Gericht folgt damit implizit teilweise den Argumenten des Verfassers im obenstehenden Beitrag.

    avatarDaniel Kettiger19.05.2021 23:02:30Antworten

  • 5

    Bundesgericht befasst sich mit der Einschränkung der Anzahl Teilnehmenden

    Das Bundesgericht befasste sich am 03.09.2021 in einer öffentlichen Beratung mit der Zulässigkeit der Einschränkung der Anzahl Teilnehmenden an politischen Demonstrationen (2C_290/2021, 2C_308/2021). Das Bundesgericht heisst die Beschwerde im Zusammenhang mit der coronabedingten Beschränkung der Teilnehmerzahl bei Kundgebungen auf 15 Personen im Kanton Bern gut. Die heute nicht mehr in Kraft stehende Regelung erweist sich als unverhältnismässig; das Bundesgericht beurteilt diese Frage mithin gleich, wie vorher schon das Zürcher Verwaltungsgericht. Nicht zu beanstanden ist die im Kanton Uri angeordnete Beschränkung der Teilnehmerzahl bei Kundgebungen auf 300 Personen. Der Verfasser dieses Blogs war schon viel früher zu einer ähnlichen Beurteilung gelangt. Siehe auch Medienmitteilung des Bundesgerichts: https://www.bger.ch/files/live/sites/bger/files/pdf/de/2c_0290_2021_yyyy_mm_dd_T_d_12_19_10.pdf

    avatarDaniel Kettiger08.09.2021 17:17:31Antworten

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