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[Staatsrecht] Trajkova / Schutz der Gesundheit in Zeiten der Covid-19-Pandemie: von der Macht eines öffentlichen Interesses

Das öffentliche Interesse des Schutzes der Gesundheit ist gerade in aller Munde. Doch kaum jemand vermag seinen Inhalt zu definieren. Dies birgt Potential, aber auch Gefahren, wie Renata Trajkova in ihrem Diskussionsbeitrag aufzeigen möchte.

1. Vorbemerkungen

Vorab: Nein, dies ist keine Beurteilung der laufenden Impfdiskussion. Genauso wenig geht um Kritik an Exekutive(n) oder Legislative(n) (welche aufgrund des offensichtlichen Rückschaufehlers, dem sog. «hindsight bias», ohnehin unangebracht wäre). Ebenso soll jegliche Wertung darüber entfallen, was rechtlich oder gar moralisch in Covid-19-Zeiten vertretbar ist. Beabsichtigt wird lediglich, eine Beobachtung festzuhalten. Der vorliegende Kurzbeitrag soll nämlich den Scheinwerfer auf eine Rechtsfigur richten, die nach Vernehmen der Autorin in der Praxis kaum hinreichend konkretisiert wird: das öffentliche Interesse des Schutzes der Gesundheit.

2. Keine bisherige Konkretisierungsnotwendigkeit von öffentlichen Interessen

Jeder staatliche Eingriff in Grundrechte (traditionell: Freiheitsrechte) bedarf einer gesetzlichen Grundlage, muss auf ein öffentliches Interesse beruhen und verhältnismässig sein (Art. 36 Abs. 1–3 BV). Während das Vorliegen einer gesetzlichen Grundlage und das Einhalten des Verhältnismässigkeitsprinzips in der Rechtsprechung regelmässig – mehr oder weniger – gründlich überprüft werden, erschöpfen sich die Erwägungen zum öffentlichen Interesse meistens in einem knappen Textbaustein (im Durchschnitt bestehend aus ein bis zwei Sätzen). Es wird angesprochen, bejaht und ad acta gelegt (auch wenn das öffentliche Interesse im Anschluss den Massstab für die Verhältnismässigkeitsprüfung bilden sollte). Dabei spielt es auch – anders als bei der Frage der gesetzlichen Grundlage – keine Rolle, ob es sich um einen schweren oder leichten Eingriff handelt. Das öffentliche Interesse bleibt dasselbe.

Zugegeben – wir waren es auch bisher gewohnt, uns nicht gross Mühe geben zu müssen, wenn es um die Konkretisierung eines öffentlichen Interesses ging. Vielfältig verstreut sind die öffentlichen Interessen in Bundes- und Kantonsverfassungen. Konkretisiert werden sie in zahlreichen Erlassen auf formeller Ebene, hier und da sogar auf sogar auf Verordnungsstufe (z.B. Art. 8 der Energieverordnung vom 1. November 2017, SR 730.01). Im Einsatzfall ist folglich keine grosse Recherchearbeit für die Auffindung eines öffentlichen Interesses erforderlich. Plakativ gesprochen könnte man sich problemlos einer der anerkannten, aus den ursprünglichen Polizeigütern entwickelten, generischen Kategorien bedienen, in denen die öffentlichen Interessen eingegliedert wurden und werden (z.B. Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit). Entsprechend entfiel und entfällt in den meisten Fällen die Notwendigkeit einer grossen Legitimationsdiskussion über das öffentliche Interesse. Man musste nur die richtigen Stichworte nennen; grosse Konkretisierungsarbeit wurde und wird nur in seltenen Fällen erwartet.

3. Unklare Definition des «Schutzes der Gesundheit»

In der heutigen Zeit sind die Umstände aber anders: Der Schutz der Gesundheit ist ein omnipräsenter Terminus geworden. Die Covid-19-Pandemie hat dem Begriff im Eiltempo einen Prominentenstatus verschafft, welcher die übrigen öffentlichen Interessen nur in seinem Schatten verblassen lässt. Überall ist die Rede vom «Schutz der Gesundheit». Sei es für die Einführung einer Zertifikatspflicht, bei Massentests an Schulen oder für die Begründung der Notwendigkeit eines Schutzkonzepts – dieses öffentliche Interesse wird vielfältig eingesetzt. Das ist auch nicht weiter verwunderlich, zumal seine Überzeugungskraft gleichsam simpel und plausibel ist: Problemlos kann sich jede und jeder vorstellen, was mit «Schutz der Gesundheit» gemeint ist.

Doch bei genauerer Betrachtung trügt der Schein: Was genau ist die Gesundheit? Wessen Gesundheit ist gemeint? Wer oder was ist die, auch geläufige, «öffentliche Gesundheit»? Wer muss zwingend geschützt werden? Warum scheint nur die physische Gesundheit inbegriffen zu sein? Warum ist das Bedürfnis nach dem Schutz der Gesundheit dann grösser, wenn die ökonomischen Folgen breiter gestreut sind? Ab wann sprechen wir aus öffentlich-rechtlicher Sicht vom Schutz der Gesundheit? Diese – zugegeben sehr provokativ gestellten – Fragen sollen nur zeigen, dass wir uns schon längst daran gewöhnt haben, nicht zu wissen, welches Schutzgut es zu schützten gilt.

4. Grenzenloser Schutz der Gesundheit?

Der Begriff «Schutz der Gesundheit» erweckt den Eindruck, keine Grenzen zu haben. Denn schliesslich muss er für eine grosse Vielfalt von Eingriffen herhalten. Seine umfassende Dehnbarkeit scheint auch sein eigentlicher Vorteil zu sein: Unvorhersehbare Phänomene wie die Covid 19-Pandemie können damit problemlos gedeckt werden. Der «Schutz der Gesundheit» zeigt demonstrativ auf, dass ein Rechtsstaat auf die Flexibilität angewiesen ist, die ein solch breiter Terminus gewährt; wird doch damit gerade die staatliche Handlungsfähigkeit fortlaufend gewährleistet. Ein Rechtstaat muss jederzeit handeln können. Bemerkenswert ist zugleich die Macht, welche seine Verwendung gewährt. Die Berufung auf den Schutz der Gesundheit hat etwas Patriarchalisches an sich; den darauf basierenden Handlungen ist eine gewisse Legitimität inhärent.

Problematisch wird es, wenn die Eingriffe in die Grundrechte stetig schwerwiegender werden. Denn die Vorteile dieses Begriffs sind auch gleichzeitig seine Nachteile: Weil man nicht genau weiss, was zum Schutz der Gesundheit gehört, hält man sich zwingend nur an seine Konturen, also an einen notorischen «Volks-Gesundheitsbegriff». Sehr grosszügig ist folglich das Verständnis des Gesundheitsbegriffs im Zusammenhang mit der Covid 19-Pandemie: Es ist alles notwendig, um das Funktionieren des Rechtsstaats und die Leben der Personen auf diesem Staatsgebiet zu schützen. Da die Gesundheit jeder Person so individuell wie die Person selbst ist, wird der Begriff also sehr weit ausgelegt. Selbstverständlich ist das aber nicht: Vertraut ist man sonst eher mit einer strengeren Handhabung, zumal «die Gesundheit» im Schweizerischen Sozialversicherungssystem nicht so pauschal geschützt ist. Vielmehr regieren austarierte Listen im Kampf um jede Position im Gesundheitssystem. Krankenkassen erkennen nicht jeden die Gesundheit gefährdenden Zustand als schutzwürdig an. In «normalen» Zeiten erscheint der Schutz der Gesundheit durch den Staat geringer zu sein.

5. Schlussfolgerungen

Vergessen darf man in diesem Zusammenhang nicht, dass das öffentliche Interesse des Schutzes der Gesundheit nicht nur Potential hat, Personen zu schützen, sondern auch für eine Vielzahl von Eingriffen herhalten kann und muss, die sonst nicht akzeptiert worden würden. Der «Schutz der Gesundheit» ist argumentativ sehr dominant. Je dominanter das öffentliche Interesse, desto einschneidender können die zu ertragenden Eingriffe sein. Je länger ein solcher Krisenzustand anhält, desto eher gewöhnt sich die Bevölkerung an die gestützt darauf ergangenen Massnahmen.

Folge davon ist ein höherer Massstab: Die Hürde, eine Grundrechtsverletzung anzunehmen, wird nach oben verschoben. Und hier wird es gefährlich: Liegt die Messlatte des Tolerierbaren höher, so geht dies auf Kosten der jahrzehntelang entwickelten und erkämpften Facetten des Grundrechtsschutzes. Während das Bedürfnis nach Massnahmen in Krisenzeiten steigt, fällt die Notwendigkeit der Weiterentwicklung des Schutzbereichs der Grundrechte zurück. Konkret, das von Anfang an bestehende Ungleichgewicht zwischen dem Schutz der Gesundheit und dem in Frage stehenden Eingriff bleibt, solange die Krise nicht überwunden ist. Es ist kaum ein Eingriff denkbar, der unzulässig ist, d.h. nicht zu Gunsten des Schutzes der öffentlichen Gesundheit ergehen kann. Und damit liegt auch dogmatisch das Problem dieser Rechtsfigur.

Auch wenn gesetzliche Grundlagen und das Verhältnismässigkeitsprinzip Missbräuche begrenzen können, so können sie nicht verhindern, dass die Eingriffe in die Grundrechte nicht laufend schwerwiegender werden. Diese Aufgabe obliegt dem öffentlichen Interesse. Wird dieses aber so weit gedehnt, dass fast alles darunterfällt, so kann es seine Schutz- und Begrenzungsfunktion nicht mehr wahrnehmen.


Renata Trajkova ist Rechtsanwältin, wissenschaftliche Assistentin, Mitarbeiterin am Zentrum für Stiftungsrecht sowie Doktorats-Stipendiatin an der Universität Zürich.

 

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