Jusletter Coronavirus-Blog

[Staatsrecht] Kettiger / Ein Virus – ein Risiko – zweierlei Risikoländer – willkürliches Recht

Die Einreise- und Visabeschränkungen in der Covid-19 Verordnung 3 verletzen Verfassungsrecht und müssen so rasch wie möglich aufgehoben werden. Ob sie rechtlich überhaupt Bestand haben, ist fraglich.

1. Einleitung

Das schweizerische Recht weist gegenwärtig zwei unabhängige Regelungssysteme auf, die zum Zweck der Bekämpfung der Viruskrankheit Covid-19 Massnahmen vorsehen, welche die Einreise in die Schweiz betreffen (grenzsanitarische Massnahmen i.w.S.):

  1. Einreise- und Visasperren nach der Covid-19-Verordnung 31;
  2. Quarantäne nach der Covid-19-Verordnung Massnahmen im Bereich des internationalen Personenverkehrs2 (nachfolgend Covid-19-Verordnung Personenverkehr genannt).


Art. 4 Abs. 1 Covid-19-Verordnung 3 hält fest, dass Ausländerinnen und Ausländern, die aus einem Risikoland oder aus einer Risikoregion kommend in die Schweiz einreisen wollen und nicht vom Geltungsbereich des Freizügigkeitsabkommens mit der EU bzw. EFTA erfasst werden, die Einreise für einen bewilligungsfreien Aufenthalt ohne Erwerbstätigkeit bis zu drei Monaten verweigert wird. Ausländerinnen und Ausländern, die aus einem Risikoland oder aus einer Risikoregion kommend in die Schweiz einreisen wollen und die nicht von der Personenfreizügigkeit erfasst werden, wird zudem die Erteilung von Schengen-Visa für bewilligungsfreie Aufenthalte ohne Erwerbstätigkeit bis zu drei Monaten verweigert (Art. 10 Covid-19-Verordnung 3).3 Die Einreisebeschränkungen gelten nicht für Schweizerinnen und Schweizer. Die Covid-19-Verordnung 3 stützt sich auf Art. 185 Abs. 3 BV4 und stellt damit gesetzesvertretendes Notverordnungsrecht dar. Als Risikoländer oder -regionen gelten namentlich Länder oder Regionen, deren Behörden ausserordentliche Massnahmen zur Verhütung und Bekämpfung der Covid-19-Epidemie angeordnet haben (Art. 3 Abs. 2 Covid-19-Verordnung 3). Die Liste der Risikoländer oder -regionen wird in Anhang 1 der Covid-19-Verordnung 3 veröffentlicht; das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) erstellt die Liste und führt sie laufend nach (Art. 3 Abs. 2 Covid-19-Verordnung 3). Seit dem 20. Juli 2020 gelten nicht mehr alle Staaten ausserhalb des Schengen-Raums als Risikoländer; der Anhang 1 der Covid-19-Verordnung 3 enthält nun zusätzlich eine Positivliste von 21 Staaten ausserhalb des Schengen-Raums, aus denen die Einreise grundsätzlich zulässig ist.5

Die Covid-19-Verordnung Personenverkehr regelt die Quarantänepflicht bei der Einreise in die Schweiz. Personen, die in die Schweiz einreisen und sich zu einem beliebigen Zeitpunkt innerhalb von 14 Tagen vor der Einreise in einem Staat oder Gebiet mit erhöhtem Risiko einer Ansteckung mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 (Staat oder Gebiet mit erhöhtem Ansteckungsrisiko) aufgehalten haben, sind verpflichtet, sich unverzüglich nach der Einreise auf direktem Weg in ihre Wohnung oder eine andere geeignete Unterkunft zu begeben; sie müssen sich während 10 Tagen nach ihrer Einreise ständig dort aufhalten (Art. 2 Covid-19-Verordnung Personenverkehr). Diese Quarantäneregelung gilt auch für Schweizerinnen und Schweizer. Die Verordnung stützt sich auf Art. 41 Abs. 3 EpG.6 Die Staaten und Gebiete mit erhöhtem Ansteckungsrisiko sind in Art. 3 Covid-19-Verordnung Personenverkehr beschrieben. Die Liste der Staaten oder Gebiete mit erhöhtem Ansteckungsrisiko wird im Anhang zur Verordnung aufgeführt; das Eidgenössische Departement des Inneren (EDI) führt sie laufend nach (Art. 3 Abs. 2 Covid-19-Verordnung Personenverkehr).

2. Geteilte Zuständigkeiten und unzulässige Rechtsetzungsdelegationen

Die Risikoländer der beiden Verordnungen sind unterschiedlich definiert. Die massgeblichen Listen werden von unterschiedlichen Departementen (EJPD und EDI) nachgeführt. Das einzige Bundesamt, das wohl einigermassen in der Lage ist, die Situation der Coronavirus-Krise und die Ansteckungsgefahr mit dem Virus SARS CoV-2 in anderen Ländern abzuschätzen, ist das Bundesamt für Gesundheit (BAG) im EDI. Weshalb die Liste der Risikoländer im Anhang 1 der Covid-19-Verordnung 3 vom EJPD nachgeführt wird, lässt sich sachlich nicht begründen. Auch wenn in beiden Verordnungen eine Rücksprache mit dem jeweils anderen Departement sowie mit dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) vorgesehen ist (vgl. Art. 3 Abs. 2 Covid-19-Verordnung 3; Art. 3 Abs. 2 Covid-19-Verordnung Personenverkehr), ist eine Koordination nicht gewährleistet.

Abgesehen davon ist in beiden Fällen bzw. beiden Verordnungen die Delegation von Rechtsetzungsbefugnissen an ein Departement zur Nachführung der Liste der Risikoländer bzw. der Liste der Staaten mit erhöhtem Ansteckungsrisiko nicht zulässig: Bei Notverordnungsrecht gestützt auf Art. 185 Abs. 3 BV ist eine Rechtsetzungsdelegation an ein Departement ausgeschlossen7 und die Delegation in der Covid-19-Verordnung Personenverkehr ist mit den Regeln von Art. 48 Abs. 1 RVOG nicht vereinbar.8

3. Fragliche Verfassungsmässigkeit des Einreiseverbots durch Notverordnungsrecht

Notverordnungsrecht darf gestützt auf Art. 185 Abs. 3 BV nur dann erlassen werden, wenn ein einschlägiges Schutzgut oder die öffentliche Ordnung gefährdet ist und zeitliche und rechtliche Dringlichkeit besteht.9 Zudem muss das Notrecht durch überwiegende öffentliche Interessen gerechtfertigt, verhältnismässig sowie willkürfrei sein und muss die Rechtsgleichheit und den Grundsatz von Treu und Glauben wahren.10

Von den Fachpersonen der Bundesverwaltung und vom Bundesrat wird offenbar eine 10-tägige Quarantäne unmittelbar nach der Einreise als genügende Massnahme erachtet, um die Einschleppung von Covid-19 aus Risikoländern, d.h. Staaten mit erhöhtem Ansteckungsrisiko, zu verhindern. Das Ansteckungsrisiko in Risikoländern ist für Ausländerinnen und Ausländer nicht grösser als für die sich dort aufhaltenden Schweizerinnen und Schweizer (bzw. für Ausländerinnen und Ausländer die der Personenfreizügigkeit in die Schweiz unterstehen). Es würde mithin genügen, für alle Ausländerinnen und Ausländer ebenfalls eine blosse Quarantänepflicht einzuführen, allenfalls verbunden mit dem Nachweis, dass ein geeigneter Quarantäneort in der Schweiz besteht und bezahlt ist. Das Einreiseverbot für Ausländerinnen und Ausländer nach Art. 4 Abs. 1 und Art. 10 Covid-19-Verordnung 3 schiesst mithin über das Ziel hinaus und ist unverhältnismässig.

Als Risikoländer oder -regionen, aus denen die Einreise verboten ist, gelten namentlich Länder oder Regionen, deren Behörden ausserordentliche Massnahmen zur Verhütung und Bekämpfung der Covid-19-Epidemie angeordnet haben (Art. 3 Abs. 2 Covid-19-Verordnung 3). Dieses Kriterium ist sachlich untauglich, weil fast weltweit Behörden ausserordentliche Massnahmen gegen Covid-19 angeordnet haben und weil es nichts über das Risiko einer Ansteckung mit dem Virus SARS CoV-2 und das Risiko der Einschleppung in die Schweiz besagt. Die Liste im Anhang 1 der Covid-19-Verordnung 3 ist demnach willkürlich.

Demgegenüber enthält Art. 3 Abs. 1 Bst. a Covid-19-Verordnung Personenverkehr einen rationalen Massstab für die Ansteckungsgefahr in einem bestimmten Land oder Gebiet.11 Wie willkürlich die Liste der Risikoländer im Anhang 1 zur Covid-19-Verordnung 3 ist, zeigt sich, wenn das Ansteckungsrisiko an Hand einiger Beispiele nach dem Kriterium von Art. 3 Abs. 1 Bst. a Covid-19-Verordnung Personenverkehr geprüft wird:12

  • Algerien mit 17 neuen Fällen pro 100'000 Einwohnenden in den letzten 14 Tagen, Marokko (9) und Tunesien (2) sind keine Risikoländer mehr, Libyen (13) verbleibt auf der Risikoliste.
  • Uruguay, das nun nicht mehr als Risikoland gilt, hat zwar mit nur 3 neuen Fällen pro 100'000 Einwohnenden in den letzten 14 Tagen ein sehr kleines Ansteckungsrisiko; Paraguay liegt mit 18 neuen Fällen pro 100'000 Einwohnenden in den letzten 14 Tagen (gleich wie Belgien) aber ungefähr im Bereich des Ansteckungsrisikos in der Schweiz und man fragt sich, weshalb es noch ein Risikoland ist.
  • Bulgarien, das nun nicht mehr als Risikoland gilt, liegt zwar noch unter dem Grenzwert von Art. 3 Abs. 1 Bst. a Covid-19-Verordnung Personenverkehr, hat aber mit 43 neuen Fällen pro 100'000 Einwohnenden in den letzten 14 Tagen ein wesentlich höheres Ansteckungsrisiko als die Schweiz.
  • Australien, das nun nicht mehr als Risikoland gilt, hat zwar mit 14 neuen Fällen pro 100'000 Einwohnenden in den letzten 14 Tagen ein ungefähr gleiches Ansteckungsrisiko wie die Schweiz, hat aber stark zunehmende Fallzahlen (+57% gegenüber Vorwoche), so dass die Grenze zwischen den beiden bevölkerungsreichsten Bundesstaaten geschlossen13 und Parlamentssitzungen abgesagt14 wurden.
  • Kuba ist eine Insel mit einem anerkannt zuverlässigen Gesundheitssystem und weist nur 1 neuen Fall pro 100'000 Einwohnende auf, gilt aber weiterhin als Risikoland.

4. Fazit

Die mit Art. 4 Abs. 1 und Art. 10 Covid-19-Verordnung 3 angeordnete Einreisesperre für bestimmte Ausländerinnen und Ausländer in die Schweiz erfüllt die Voraussetzungen für Notverordnungsrecht (Art. 185 Abs. 3 BV) 15 nicht, weil die Einschleppung von Covid-19 in die Schweiz ebenso gut mittels der in der Covid-19-Verordnung Personenverkehr geregelten Quarantäne, die sich auf ordentliches Recht (Art. 41 Abs. 3 EpG) stützt, erreicht werden kann; es fehlt an der rechtlichen (und wohl auch zeitlichen) Dringlichkeit. Die Einreisesperre ist zudem unverhältnismässig. Sie verletzt das Rechtsgleichheitsprinzip, indem Ausländerinnen und Ausländer, die aus einem Risikoland (Anhang 1 Covid-19-Verordnung 3) einreisen, aber den Personenfreizügigkeitsabkommen unterstehen, in die Schweiz einreisen können, obwohl von diesen das gleiche Risiko der Einschleppung von Covid-19 ausgeht, wie von den übrigen Ausländerinnen und Ausländern. Zudem ist die Liste der Risikoländer im Anhang 1 zur Covid-19-Verordnung 3 bezogen auf das Ansteckungsrisiko mit dem Coronavirus SARS Cov-2 – um das es ja letztlich sachlich geht – völlig willkürlich.

Art. 4 und 10 Covid-19-Verordnung 3 sowie der zugehörige Anhang 1 der Covid-19-Verordnung 3 verletzen Verfassungsrecht und müssen so rasch wie möglich aufgehoben werden. Ob sie rechtlich überhaupt Bestand haben, ist fraglich.

Mag. rer. publ. Daniel Kettiger ist Berater, Rechtsanwalt und Justizforscher in Thun

  1. 1Verordnung 3 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (Covid-19) (Covid-19-Verordnung 3) vom 19. Juni 2020, SR 818.101.24.
  2. 2Verordnung über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (Covid-19) im Bereich des internationalen Personenverkehrs (Covid-19-Verordnung Massnahmen im Bereich des internationalen Personenverkehrs) vom 2. Juli 2020, SR 818.101.27.
  3. 3Ausführlich dazu die Weisungen Nr. 323.7-5040/3 des Staatssekretariats für Migration (SEM) «Umsetzung der Verordnung 3 über Massnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus (COVID-19-Verordnung 3) sowie zum Vorgehen bezüglich Ein- /Ausreise in/aus der Schweiz» vom 20. Juli 2020, https://www.sem.admin.ch/content/dam/data/sem/aktuell/aktuell/einreisestopp/weisung-covid-19-d.pdf (zuletzt besucht am 21.07.2020).
  4. 4Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999, SR 101.
  5. 5Siehe Verordnungsänderung vom 16. Juli 2020, AS 2020 2927; von der Einreisebeschränkung sind nun (Stand 220.07.2020) folgende Staaten ausserhalb des Schengen-Raums ausgenommen: Algerien, Andorra, Australien, Bulgarien, Georgien, Heiliger Stuhl, Irland, Japan, Kanada, Korea (Süd-), Kroatien, Marokko, Monaco, Neuseeland, Ruanda, Rumänien, San Marino, Thailand, Tunesien, Uruguay, Zypern.
  6. 6Siehe dazu den Blog-Beitrag Kettiger / Staatsrechtlich problematische Covid-19-Verordnung Massnahmen im Bereich des internationalen Personenverkehrs, Ziff. 2.
  7. 7Vgl. Giovanni Biaggini, Kommentar BV, 2. Aufl., Art. 185, Rz. 10.
  8. 8Siehe dazu den Blog-Beitrag Kettiger / Staatsrechtlich problematische Covid-19-Verordnung Massnahmen im Bereich des internationalen Personenverkehrs, Ziff. 4.
  9. 9Vgl. beispielsweise Biaggini (Fn. 7), Rz. 10.
  10. 10Vgl. beispielsweise Biaggini (Fn. 7), Rz. 10.
  11. 11Es gilt folgender Grenzwert, ab dem ein Land als Risikoland gilt: «Die Zahl der Neuinfektionen pro 100 000 Personen beträgt im betreffenden Staat oder Gebiet in den letzten 14 Tagen mehr als 60.»
  12. 12Die Beispiele stützen sich auf eine Liste von SRF: https://www.srf.ch/news/schweiz/corona-risikostaaten-diesen-laendern-droht-die-quarantaene-liste (Stand am 21.07.2020); die von SRF verwendeten Zahlen stammen vom Europäischen Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten ECDC, auf dessen Angaben sich auch das BAG stützt.
  13. 13Vgl. Aargauer Zeitung vom 6. Juli 2020, https://www.aargauerzeitung.ch/leben/forschung-technik/corona-australien-schliesst-grenze-zwischen-bundesstaaten-138376138.
  14. 14Vgl. Aargauer Zeitung vom 18. Juli 2020, https://www.aargauerzeitung.ch/ausland/australien-sagt-parlamentssitzung-wegen-coronavirus-ab-138490523.
  15. 15Vgl. beispielsweise Biaggini (Fn. 7), Rz. 10.

Aucun commentaire

Es gibt noch keine Kommentare

Ihr Kommentar zu diesem Beitrag

Jusletter-AbonnentInnen können sich an der Diskussion beteiligen. Bitte loggen Sie sich ein, um Kommentare verfassen zu können.

Jusletter abonnieren