19. März 2012

Text

Liebe Leserinnen und Leser
 
An der EM 2012 in Polen sollen mithilfe von sog. elektronischen Fussfesseln Hooligans überwacht werden; in der Schweiz wird überlegt, dass z.B. gewalttätige Männer zum Schutz ihrer Frauen solche Fussfesseln erhalten. Im Rahmen der Diskussion um die Einführung kurzer Freiheitsstrafen wird die Fussfessel für den Vollzug von Freiheitsstrafen zwischen einem und sechs Monaten vorgesehen, um diese auch ausserhalb des Gefängnisses zu ermöglichen. Doch stellt diese elektronische Überwachung tatsächliche eine Alternative zur eigentlichen Haftstrafe dar? Nathalie Berlovan analysiert die rechtlichen Voraussetzungen und Anwendungsmöglichkeiten in der Schweiz.
 
Der indirekte Gegenvorschlag zur «Abzocker»-Initiative wurde in der Schlussabstimmung der Frühjahrssesssion am 16. März 2012 nach langem Hin und Her in den Räten angenommen. Dr. Daniel M. Häusermann unterzieht den Vorschlag einer kritischen Analyse und würdigt die geplanten Änderungen im Aktienrecht aus rechtspolitischer Sicht.
 
Silvia Eggenschwiler Suppan kommentiert das Urteil des Bundesgerichts vom 7. November 2011. Das Bundesgericht hat eine Vermieterkündigung wegen schleppender Mietzinszahlung für gültig erklärt, obwohl der Vermieter bei Vertragsabschluss ein amtliches Formular nicht verwendete, welches auf die Anfechtbarkeit des Anfangsmietzinses aufmerksam macht. Der Einwand der Mieter wurde als rechtsmissbräuchlich angesehen.
 
Die richtige Anwendung von Art. 142 Abs. 2 ZPO zur Berechnung von Monatsfristen ist deshalb schwierig, da – je nach Auslegung – die Vorschrift zu einer um einen Tag längeren oder kürzeren Frist führt. In der Praxis ist dieser Tag aber oft entscheidend. Philipp Weber spricht sich für eine «isolierte» Betrachtungsweise zur Verwirklichung einer effektiven Monatsfrist aus und führt die entsprechenden Argumente an.
 
Dr. Luc Gonin widmet sich dem Essay von Jürgen Habermas «Zur Verfassung Europas – Ein Essay». Er fasst die wichtigsten Ergebnisse zusammen und analysiert diese im Zusammenhang mit der Konstitutionalisierung des Völkerrechts und mit der Entstehung einer «geteilten» Souveränität  sowie einer transnationalen Demokratie.
 
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre und einen guten Start in die neue Woche.
 
   
Simone Kaiser Sarah Montani
Rechtsanwältin, Leiterin Jusletter Mitinhaberin Weblaw AG
Wissenschaftliche Beiträge
L’electronic monitoring en Suisse
Nathalie Berlovan
Nathalie Berlovan
Wie hat sich die elektronische Überwachung entwickelt? Stellt dieses moderne Werkzeug tatsächlich eine ideale Alternative zum Gefängnis dar? Wie und in welchem ​​Stadium ist eine Integration in den Strafvollzug möglich? Nach dem Start eines Pilotprojekts 1999, an dem sieben Schweizer Kantone beteiligt sind, schlägt ein Gesetzesentwurf vor, die elektronische Überwachung in das Sanktionenrecht zu integrieren. Die Studie wirft einige Fragen im Zusammenhang mit der Durchführung der elektronischen Überwachung in den verschiedenen Stadien des Strafverfahrens auf und schlägt eine Reihe von möglichen Lösungen zur Anwendung der bevorzugten Technologie vor. (sk)
Auf dem Weg zur Aktionärsbürokratie?
Die eidgenössischen Räte haben vor kurzem die letzten Differenzen beim indirekten Gegenvorschlag zur «Abzocker»-Initiative bereinigt. Der Artikel erläutert die geplanten Änderungen im Aktienrecht und würdigt die Neuerungen aus rechtspolitischer Sicht. Beides geschieht mit Seitenblick auf das Volksbegehren, welches immer noch hängig ist.
Urteilsbesprechungen
Rechtsmissbräuchliche Geltendmachung eines Formfehlers im Falle einer Vermieterkündigung
Silvia Eggenschwiler Suppan
Silvia Eggenschwiler Suppan
Das Bundesgericht (BGE 4A_305/2011 vom 7. November 2011) hat eine Vermieterkündigung wegen schleppender Mietzinszahlung für gültig erklärt, obwohl der Vermieter bei Vertragsabschluss das im Kanton Waadt vorgeschriebene amtliche Formular nicht verwendete, welches auf die Anfechtbarkeit des Anfangsmietzinses aufmerksam macht. Den entsprechenden Einwand der Mieter erachtete das Bundesgericht als rechtsmissbräuchlich.
Beiträge
Monatsfristen nach ZPO: Dörfs es bitzeli meh sii?
Philipp Weber
Philipp Weber
Art. 142 Abs. 2 ZPO enthält eine Regelung für die Berechnung von Monatsfristen. Über die richtige Anwendung dieser Regelung besteht in der Literatur keine Einigkeit: Je nach Auffassung resultiert eine um einen Tag längere oder kürzere Frist, was erfahrungsgemäss im Einzelfall entscheidend sein kann. Nachfolgend sollen die massgebenden Überlegungen in dieser Diskussion nachgezeichnet und erläutert werden, warum die besseren Argumente für eine «isolierte» Betrachtungsweise und eine effektive Monatsfrist sprechen. Bis zur Publikation klärender Präjudizien empfiehlt sich dem Rechtsanwender jedenfalls eine vorsichtige und damit «kurzfristige» Fristberechnung.
«Zur Verfassung Europas – Ein Essay» : synthèse de l’essai de Jürgen Habermas sur la Constitution européenne et analyse critique de plusieurs propositions clefs
Luc Gonin
Luc Gonin
Der Beitrag hat zwei Ziele: Zunächst die Zusammenfassung eines wichtigen Essays des EU-Rechts und der Verfassungstheorie, und dann die Analyse von sieben besonders interessanten Punkten des Essays, insbesondere durch eine kurze Reflexion der rechtlichen – bzw. gar philosophischen – Auswirkungen dieser Punkte. Es wird zum Beispiel über die Konstitutionalisierung des Völkerrechts, die Konzepte der transnationalen Demokratie und geteilten Souveränität sowie den Begriff des zwischenstaatlichen post-demokratischen Föderalismus nachgedacht. (sk)
Aus dem Bundesgericht
Ärzte dürfen ab 1. Mai 2012 Medikamente verkaufen
Jurius
Jurius
BGer – Ärzte in den Städten Zürich und Winterthur dürfen ab dem 1. Mai 2012 Medikamente abgeben. Das Bundesgericht hat der Beschwerde von drei Apothekern gegen den Inkraftsetzungstermin die aufschiebende Wirkung verweigert. (Verfügung im Verfahren 2C_158/2012)
Nachträgliche Verwahrung: Zürcher Obergericht muss über die Bücher
Jurius
Jurius
BGer – Die Zürcher Justiz hat laut Bundesgericht die nachträgliche Verwahrung eines verurteilten Mörders vorschnell ausgeschlossen. Das Obergericht muss erneut prüfen, ob die Voraussetzungen für ein Verfahren erfüllt sind. (Urteil 6B_404/2011)
Fernsehen: SF hat Verein gegen Tierfabriken nicht diskriminiert
Jurius
Jurius
BGer – Das Schweizer Fernsehen (SF) hat den Verein gegen Tierfabriken (VgT) in seiner Berichterstattung nicht diskriminiert. Allerdings gibt es laut Bundesgericht durchaus Hinweise auf eine gewisse Animosität gegenüber dem streitbaren Tierschützer Erwin Kessler. (Urteil 2C_408/2011)
La conservation d’un profil ADN a un rôle préventif
Jurius
Jurius
BGer – Das Bundesgericht hat ein Urteil des Genfer Gerichts zur Vernichtung eines DNA-Profils eines rückfälligen Straftäters (zwölf Verurteilungen wegen Diebstahls zwischen 2003 und 2010) aufgehoben. Es erinnert daran, dass die Erhaltung eines solchen Profils eine falsche Identifizierung verhindern kann. (Urteil 1B_685/2011) (sk)
Aus dem Bundesverwaltungsgericht
Keine günstigen Posttarife für drei Wochenzeitschriften
Jurius
Jurius
BVGer – Die drei Wochenzeitschriften «Sonntag», «Leben und Glauben» sowie das «Echo Magazine» können zumindest vorerst nicht mehr von ermässigten Posttarifen profitieren. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Beschwerden der Herausgeber abgewiesen. (Urteile A-3216/2011, A-3049/2011 und A-3051/2011)
SBB muss Rollstuhlbereich in neuen Intercity-Zügen verschieben
Jurius
Jurius
BVGer – Die SBB muss ihre neuen Intercity-Züge laut Bundesverwaltungsgericht mit einem zusätzlichen Rollstuhlbereich ausserhalb des Speisewagens ausstatten. Nicht nötig ist der von Behindertenorganisationen geforderte Einbau eines Lifts zum Restaurant im Oberdeck. (Urteil A-1130/2011)
Aus der Frühjahrssession 2012
Schlussabstimmungstexte der Bundesversammlung – Frühjahrssession 2012
Jurius
Jurius
Im Folgenden finden Sie eine Übersicht der in der Frühjahrssession 2012 verabschiedeten Schlussabstimmungstexte. Die Vorlagen der Redaktionskommission sind im Format PDF abrufbar.
Wochenrückblick Frühjahrssession 2012: 12. bis 16. März 2012
Jurius
Jurius
Nachfolgend wird eine nach Tagen geordnete Auflistung der wichtigsten Entscheide des Parlaments in der Woche vom 12. bis 16. März 2012 wiedergegeben.
Markenschutz: Feilschen um Swissness
Jurius
Jurius
Wie viel Schweiz muss drin sein, damit Schweiz draufstehen darf? Diese Frage hat der Nationalrat am 15. März 2012 im Zusammenhang mit dem revidierten Markenschutzrecht kontrovers diskutiert. Er wählte schliesslich die Linie der Industrie.
Managerlöhne: Aktionäre erhalten mehr Rechte
Jurius
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Der indirekte Gegenvorschlag zur Abzocker-Initiative steht: Die Räte haben die letzte Differenz bereinigt. Die Gesetzesrevision erfüllt die meisten Forderungen der Initiative, lässt den Aktionären aber mehr Spielraum.
Abstimmungsfinanzierung: Keine Pflicht zur Offenlegung von Mitteln
Jurius
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Es gibt in der Schweiz auch weiterhin keine Pflicht, die Finanzierungsquellen von Abstimmungskampagnen offenzulegen. Der Nationalrat hat am Mittwoch mit 97 zu 72 Stimmen eine entsprechende Motion abgelehnt.
Schulden: Kreditkartengebrauch von jungen Erwachsenen in Grenzen
Jurius
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Unter 25-Jährige sollen Kreditkarten nur mit gewissen Einschränkungen benutzen können. Mit dieser Massnahme will der Nationalrat verhindern, dass die jungen Leute sich verschulden. Er unterstützte eine parlamentarische Initiative mit 87 zu 61 Stimmen.
Waldgesetz: Wuchernder Wald kann gerodet werden
Jurius
Jurius
Das Schweizer Waldgesetz wird gelockert: In manchen Gebieten kann künftig Wald gerodet werden, ohne dass die gleiche Fläche andernorts aufgeforstet werden muss. Ziel ist es, das Vordringen des Waldes einzudämmen.
Ständerat gegen Baubewilligung für Restaurant-Aussenplätze
Jurius
Jurius
Besitzt ein Gastronom eine Betriebsbewilligung und eine Bewilligung zur Nutzung des öffentlichen Grundes, soll er ein Strassencafé betreiben dürfen, ohne vorher noch eine Baubewilligung zu beantragen. Der Ständerat hat eine Motion des Nationalrats in abgeänderter Form gutgeheissen.
Schienenverkehr: Preisüberwacher nicht schwächen
Jurius
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Der Preisüberwacher kann die Bahntarife weiterhin unabhängig von den Zielen der SBB beurteilen. Der Ständerat hat am 15. März 2012 nachgegeben und sich dem Nationalrat angeschlossen.
Kindersitze: Es bleibt bei einer Kindersitz-Pflicht für Taxis
Jurius
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Taxis müssen weiterhin Sitzpolster für Kinder mitführen, auch in Städten. Der Ständerat hat am 15. März 2012 eine Lockerung der Kindersitz-Pflicht abgelehnt. Er gab einer parlamentarischen Initiative aus dem Nationalrat keine Folge.
Regierungsreform: Nationalrat stärkt Bundesrat als Kollegialbehörde
Jurius
Jurius
Der Bundesrat soll als Kollegialbehörde gestärkt werden. Der Bundespräsident soll von einer Stabsstelle der Bundeskanzlei unterstützt werden, und die Bundeskanzlei selbst erhält mehr Gewicht. Das hat der Nationalrat als Erstrat entschieden.
Adoption: Knappes «Ja» zur Adoption durch homosexuelle Paare
Jurius
Jurius
Auch gleichgeschlechtliche Paare sollen Kinder adoptieren dürfen. Der Ständerat hat am 14. März 2012 mit 21 zu 19 Stimmen eine Motion angenommen, die dies verlangt. Im Vordergrund steht die Stiefkind-Adoption, also die Adoption von Kindern der Partnerin oder des Partners.
Justiz: «Ja» zu besserem Schutz des Anwaltsgeheimnisses
Jurius
Jurius
Anwälte sollen sich künftig unabhängig vom Verfahren gleichermassen auf das Anwaltsgeheimnis berufen können. Der Ständerat hat am 14. März 2012 entsprechenden Gesetzesänderungen zugestimmt.
Frankenstärke: Keine Sonderbehandlung für die Hotellerie
Jurius
Jurius
Die Hotellerie wird nicht von der Mehrwertsteuer befreit. Nach dem Nationalrat hat sich auch der Ständerat gegen eine solche Sonderregelung ausgesprochen. Die Befürworter wollten damit die Folgen des starken Frankens abfedern.
Personenfreizügigkeit: Massnahmen gegen Lohndumping gefordert
Jurius
Jurius
Der Bund soll bei öffentlichen Aufträgen gegen Lohndumping vorgehen. Dies fordert der Nationalrat. Er hat am 12. März 2012 eine Motion seiner Kommission für Wirtschaft und Abgaben mit 105 zu 59 Stimmen bei einer Enthaltung angenommen.