Liebe Leser*innen
Das Migrationsrecht steht seit Jahren im Zentrum von Debatten, vor allem natürlich der Bereich der Asylmigration. Aber auch das Ausländerrecht, insbesondere die Ausgestaltung regulärer Migrationsmöglichkeiten von Drittstaatsangehörigen, der Widerruf von Bewilligungen bei Bezug von Sozialleistungen oder die vorläufige Aufnahme schwer erkrankter Personen sind zum Beispiel Gegenstand von Diskussionen. Diese Schwerpunktausgabe des Jusletters greift einige besonders umstrittene Fragen auf und trägt so zur wissenschaftlichen Debatte bei, ist aber auch für Personen aus der Praxis wertvoll.
Die Beiträge von Marc Spescha / Meret Lüdi (Arbeitskräftemangel im restriktiven Zulassungsland) und Oliver Neff (Drittstaatsangehörige als Lösung gegen den Fachkräftemangel?) beschäftigen sich mit der Arbeitsmigration, wobei Neff sich spezifisch mit dem Fachkräftemangel im Pflegebereich befasst.
Corinne Reber befasst sich mit dem Widerruf von Bewilligungen bei Ergänzungsleistungsbezug im Lichte eines neuen Urteils des Bundesgerichts.
Jean-Marie Staublis Beitrag analysiert Wegweisungsvollzugshindernisse in Situationen ernsthafter medizinischer Probleme.
Auch im Asylbereich herrscht nach wie vor hoher Druck: Im Frühling 2022 wurde der Schutzstatus S erstmalig aktiviert. Was auf dem Papier sehr einfach klang, erwies sich in der Praxis jedoch oftmals als komplex. Andrea Sommer analysiert die Zugangsmöglichkeiten zum Schutzstatus S unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung.
Das Humanitäre Visum wurde als Alternative zum abgeschafften Botschaftsasyl angepriesen und sollte sichere Zugangswege in die Schweiz eröffnen. Lea Fritsche untersucht dieses Instrument, kommt dabei aber zum Ergebnis, dass es die Erwartungen nicht erfüllen konnte.
Nicht zuletzt weist das Migrationsrecht inzwischen immer mehr Anknüpfungspunkte mit dem Strafrecht auf. Lena Reusser und Raffaella Massara befassen sich mit völkerrechtlichen Vollzugshindernissen bei der strafrechtlichen Landesverweisung. Alicia Giraudel analysiert die präventiven Administrativmassnahmen im Ausländer- und Asylrecht vor dem Hintergrund der Schweizer Terrorismusbekämpfung. Sie zeigt auf, dass diese in zahlreichen Punkten mit menschenrechtlichen Garantien nicht vereinbar sind. Ein aktuelles Urteil des EGMR zur Repatriierung von IS-Frauen und -Kindern mit französischer Staatsangehörigkeit aus Lagern im Norden Syriens wird schliesslich von Melanie Berger und Sarah Progin-Theuerkauf besprochen.
Die Herausgeberinnen dieser Schwerpunktausgabe, Sarah Progin-Theuerkauf und Samah Posse, wünschen eine fesselnde Lektüre.
Abstract
Die Autor:innen stellen sich angesichts des anhaltend beklagten «Arbeitskräftemangels» in der Schweiz die Frage, wie sich die restriktive gesetzliche Regelung der Arbeitskräftezuwanderung und die Praxis hierzu sachlich rechtfertigen lassen. Ein Blick auf die Regelungen in Deutschland zeigt dabei, dass die hiesige Rechtslage nicht alternativlos ist. Die Autor:innen gelangen zum Schluss, dass das geltende Recht sowohl aus arbeitsmarktlicher wie auch aus migrationspolitischer Sicht nicht zeitgemäss ist und auch das behauptete Interesse an einer restriktiven Einwanderungspolitik einer sachlichen Rechtfertigung entbehrt.
Abstract
Der bereits existierende und sich weiter akzentuierende Fachkräftemangel in der Pflege beschäftigt sowohl die Behörden in der Schweiz als auch in Deutschland. Fachkräfte aus Drittstaaten könnten einen substanziellen Teil zur Lösung beitragen, aber der ausländerrechtliche Umgang mit diesem Potenzial unterscheidet sich in den beiden Staaten frappant. Diese Unterschiede sollen im vorliegenden Artikel zunächst identifiziert und systematisch verglichen werden. Anschliessend werden die dabei gewonnenen Erkenntnisse dazu genutzt, mögliche Handlungspfade für die bisher passiv agierenden Schweizer Entscheidungsträger aufzuzeigen.
Abstract
In diesem Beitrag analysiert der Autor die Argumentation des Bundesverwaltungsgerichts, wenn es den Wegweisungsvollzug von Personen mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen zu prüfen hat. Er stellt in diesem Zusammenhang die beiden Leitplanken der Unzulässigkeit und der Unzumutbarkeit vor und geht dann auf drei ausgewählte ernsthafte medizinische Situationen ein: Personen mit einer schweren Behinderung, Personen mit Suizidgefahr und Personen, die bei einem Abbruch der Betreuung kurzfristig eindeutig am Leben bedroht sind. (xf)
Abstract
Nach Kriegsausbruch in der Ukraine vom 24. Februar 2022 wurde erstmalig die Anwendung des Schutzstatus S durch den Bundesrat verfügt. Ziel dieses Beitrages soll eine Einordnung verfahrensrelevanter Aspekte in Zusammenhang mit der vorübergehenden Schutzgewährung sein, welche sowohl im aktuellen Anwendungsfall als auch künftig zu Abgrenzungsproblemen führen können. Ein Fokus liegt dabei insbesondere auf der vom Bundesrat am 11. März 2022 definierten Schutzgruppe und den sich daraus ergebenden Schwierigkeiten. Die Rechtsprechung wurde bis Ende Februar 2023 berücksichtigt.
Abstract
Die Schweiz kannte als einziges europäisches Land bis im Herbst 2012 das Botschaftsasylverfahren. Dieses wurde in der Herbstsession 2012 durch das Parlament jedoch aufgehoben. Es wurde u.a. darauf verwiesen, dass das humanitäre Visum die bisherige Funktion des Botschaftsasylverfahrens übernehmen könnte. Der vorliegende Beitrag geht der Frage nach, ob das humanitäre Visum in der Tat eine gleichwertige Alternative zum Botschaftsasylverfahren darstellt.
Abstract
Ist in einem Strafverfahren die Vermeidung der Landesverweisung für die betroffene Person elementar, führt aus Sicht der Autorinnen für die Verteidigung kaum ein Weg daran vorbei, aktiv darauf hinzuwirken, dass auch im Falle einer Verurteilung von einer Landesverweisung abgesehen wird. Der vorliegende Beitrag will Verteidigerinnen und Verteidigern in diesem Zusammenhang mögliche rechtliche und praktische Ansatzpunkte aufzeigen, die zu einer Vermeidung der Landesverweisung führen können. Hierbei fokussiert der Beitrag auf die Grenzen der Landesverweisung durch das Völkerrecht. Die Frage, auf welche Art das Thema ins Strafverfahren eingebracht werden kann bzw. soll, ist nicht Inhalt dieses Beitrages.
Abstract
Dieser Beitrag befasst sich mit den Auswirkungen präventivstaatlicher Tendenzen auf die Menschenrechte insbesondere von Ausländer*innen und Doppelbürger*innen im Kontext der Schweizer Terrorismusbekämpfung. Er beleuchtet ausgewählte präventive Administrativmassnahmen im Ausländer- und Asylrecht – den Entzug der Staatsbürgerschaft, die Asylunwürdigkeit und Zwangsmassnahmen – und untersucht diese auf ihre Menschenrechtskonformität hin. Die Analyse ergibt, dass die Massnahmen auf einem schwammigen Sicherheitsbegriff beruhen, einen faktisch pönalen Charakter aufweisen und in mehreren Punkten nicht mit menschenrechtlichen Vorgaben vereinbar sind.
Abstract
Das Urteil des Bundesgerichts 2C_60/2022 ist eigentlich keine Sensation, gibt es doch primär das wieder, was bereits seit Langem gilt: Ergänzungsleistungen sind nicht gleichzusetzen mit Sozialhilfeleistungen und ihr Bezug hat nicht dieselben Rechtsfolgen, es sei denn, dies wurde vom Gesetzgeber explizit so festgeschrieben. Jedoch wurde diese Feststellung nötig, um der aufkommenden Praxis der Migrationsämter, Niederlassungsbewilligungen auch bei erfolgtem Wechsel von Sozialhilfe zu Ergänzungsleistungen zu widerrufen, Schranken zu setzen. Der Artikel beleuchtet die Vorgeschichte des Urteils, die darin gezogenen Schlussfolgerungen sowie seine möglichen Auswirkungen.
Abstract
Im September 2022 fällte der EGMR ein Grundsatzurteil zum Recht auf Rückkehr von sich in einem Camp in Syrien befindlichen IS-Frauen und -Kindern nach Frankreich. Der EGMR verneinte ein allgemeines Repatriierungsrecht, bejahte jedoch die extraterritoriale Hoheitsgewalt Frankreichs bezüglich des Einreiserechts für eigene Staatsangehörige. Er rügte eine Verletzung von Art. 3 Abs. 2 des Zusatzprotokolls Nr. 4 EMRK aufgrund fehlender angemessener Schutzmassnahmen gegen Willkür. Im Folgenden wird das Urteil zusammengefasst und analysiert. Anschliessend wird die Relevanz des Urteils für die Schweiz mit Blick auf deren Rückführungspraxis diskutiert.
Abstract
BGer – Das Bundesgericht hebt die Landesverweisung eines Mannes tibetischer Ethnie auf. Die vom Waadtländer Kantonsgericht angeordnete Landesverweisung in ein «Drittland mit Ausnahme der Volksrepublik China» ist bundesrechtswidrig, da ungeklärt ist, ob der Betroffene von einem Drittland überhaupt aufgenommen würde. (Urteil 6B_627/2022)
Abstract
BGer – Das Bundesgericht heisst eine Beschwerde gegen das partielle Bettelverbot des Kantons Basel-Stadt teilweise gut. Das Bettelverbot in öffentlichen Parks hebt es als unverhältnismässig auf. Die übrigen Bestimmungen können grundrechtskonform angewendet werden; gegenüber passiv bettelnden Menschen darf eine Busse nur verhängt werden, wenn vorangehende mildere Massnahmen erfolglos geblieben sind. (Urteil 1C_537/2021)
Abstract
BGer – Ein nach eigener Auffassung über «Superkräfte» verfügender Mann muss in Untersuchungshaft bleiben, weil er möglicherweise sensible Computerdaten veröffentlichen oder beschädigen könnte. Dies hat das Bundesgericht entschieden. (Urteil 1B_138/2023)
Abstract
BGer – Ein Angehöriger des «indigenen Volks der Germaniten» hat sich erfolglos gegen eine Lohnpfändung durch das Betreibungsamt des Bezirks Frauenfeld gewehrt. Er blitzte mit seiner Beschwerde beim Thurgauer Obergericht und dem Bundesgericht ab. (Urteil 5A_117/2023)
Abstract
BGer – Das Bundesgericht bestätigt die Verurteilung des französischen Komikers Dieudonné durch das Genfer Kantonsgericht wegen Rassendiskriminierung. Für seine 2019 bei Auftritten in Nyon und Genf gemachte Äusserung, dass die Gaskammern nie existiert hätten, kann er sich nicht auf die Meinungsäusserungsfreiheit berufen. (Urteil 6B_777/2022)
Abstract
BVGer – Weil die persönliche und medizinische Situation eines asylsuchenden Palästinensers nicht ausreichend abgeklärt wurde, darf er nicht nach Italien weggewiesen werden. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht entschieden. Es hat einen Entscheid des Staatssekretariats für Migration aufgehoben. (Urteil F-649/2023)
Abstract
BVGer – Eine Beschwerde gegen die Vergabe der Arbeiten für die Sanierung des Hauenstein-Basistunnels auf der SBB-Bahnlinie Basel-Olten hat keine Auswirkungen auf die Umsetzung. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine aufschiebende Wirkung erteilt, womit die Arbeiten weiterlaufen können. (Zwischenentscheid B-3196/2022)
Abstract
BStGer – Das Bundesstrafgericht hat einen Franzosen im Zusammenhang mit der Korruptionsaffäre um den Rohstoffhändler Gunvor zu einer bedingten Freiheits- und Geldstrafe verurteilt. Der Mann wurde der qualifizierten Geldwäscherei und Urkundenfälschung für schuldig befunden. (Urteil SK.2022.50)
Abstract
Die Gerichte bestätigen, dass die WEKO ihre Rolle als Wettbewerbshüterin gut wahrnimmt und die Rechte der Parteien hochhält. Trotzdem drohen politische Vorstösse das Kartellgesetz zu schwächen. Zudem führten SARS-CoV-2 sowie die Kriegssituation in der Ukraine zu kartellrechtlichen Fragen.
Abstract
Der Bundesrat hat am 5. April 2023 die Chemikalien-Risikoreduktions-Verordnung geändert. Damit erfüllt er die Motion Schmid 19.3734 und gewährt der chemisch-pharmazeutischen Industrie Erleichterungen. Für besonders besorgniserregende Stoffe gilt grundsätzlich ein Verwendungsverbot. Unter bestimmten Voraussetzungen sind aber befristete Ausnahmen für bestimmte Verwendungen solcher Stoffe möglich. Dies insbesondere dann, wenn ein Unternehmen auf einen Stoff nicht verzichten kann und wenn kein Ersatz durch einen weniger gefährlichen Stoff oder ein anderes Verfahren möglich ist. Die Verordnungsänderung tritt am 1. Mai 2023 in Kraft.
Abstract
Die neue Nationale Cyberstrategie (NCS) wurde an der Sitzung vom 5. April 2023 durch den Bundesrat und an der Plenarversammlung der KKJPD vom 13. April durch die Kantone gutgeheissen. Die Strategie zeigt auf, mit welchen Zielen und Massnahmen der Bund und die Kantone gemeinsam mit der Wirtschaft und den Hochschulen den Cyberbedrohungen begegnen wollen. Für die Planung und Koordination der Umsetzung wird wiederum ein Steuerungsausschuss eingesetzt, der die Strategie auch weiterentwickeln soll. Dazu soll dessen Rolle ausgebaut und die Unabhängigkeit gestärkt werden.
Abstract
Die Rechtsprechungsübersicht führt die zur Publikation in der Amtlichen Sammlung vorgesehenen Urteile des Schweizerischen Bundesgerichts vom 17. Februar bis und mit 16. März 2023 sowie die Urteile des EGMR mit Beteiligung der Schweiz auf. Neben Dossiernummer, Urteilsdatum, Abteilung/Kammer, Prozessgegenstand und Vorinstanz wird ein Hyperlink zum Originalentscheid und – sofern vorhanden – zur jeweiligen Mitteilung bzw. Besprechung in Jusletter und im dRSK wiedergegeben.