Liebe Leserinnen und Leser
Das Migrationsrecht erlebt aktuell turbulente Zeiten: Nach der Annahme von Art. 121a mit der Übergangsbestimmung in Art. 197 Ziff. 9 BV (Volksinitiative «Gegen Masseneinwanderung») am 9. Februar 2014 ist weitgehend unklar, wie das bisher geltende duale Zulassungssystem (freie Zuwanderung von Arbeitskräften aus EU- und EFTA-Staaten und kontingentierte Zuwanderung von besonders qualifizierten Personen aus Drittstaaten) umgebaut werden soll. Unsicher ist auch die Zukunft der bilateralen Verträge mit der Europäischen Union, nicht nur der sogenannten «Bilateralen I», sondern auch der Schengen-Dublin-Kooperation der Schweiz («Bilaterale II»). Es ist alles andere als ausgeschlossen, dass wir uns in einigen Jahren als Staat an der Aussengrenze des Schengen-Raums wiederfinden werden und Schweizer Staatsangehörige sich auf die für Drittstaatsangehörige geltenden EU-Richtlinien berufen werden müssen.
Insofern dürfte der Beitrag von Samah Ousmane, der sich mit der Zulassung von Forschenden, Studierenden, Schülern und Schülerinnen und Stagiaires aus Drittstaaten in die EU befasst («L’admission des chercheurs, étudiants, élèves, volontaires et stagaires dans l’UE – Vers une Europe du savoir?»), besondere Aktualität geniessen: Gibt es bald einen Ersatz für Freizügigkeit und Erasmus-Mobilität für einen privilegierten Kreis von SchweizerInnen?
Vor dem Hintergrund der Abstimmung vom 9. Februar 2014 erweist sich die Abhandlung von Stefan Schlegel und Charlotte Sieber-Gasser («Der Dritte Weg zur Vierten Freiheit») von besonderer Brisanz: Bereits heute enthalten – wie die Autoren aufzeigen – zahlreiche Verträge im Bereich des Freihandels (WTO-Recht und bilaterale Freihandelsverträge, wie zuletzt etwa mit China geschlossen) limitierte Ansprüche auf Zulassung von natürlichen Personen: Das in der Massenzuwanderungsinitiative vorgesehene Kontingentierungssystem wird zu absehbaren Problemen bei der Erfüllung dieser Verträge führen. Die Autoren argumentieren auf dieser Basis, dass das Abkommen mit China gar nicht mehr ratifiziert werden dürfe.
Mit 32% aller Einreisen zwecks Aufenthalts in der Schweiz ist der Familiennachzug durch Schweizer und Schweizerinnen oder Ausländerinnen und Ausländer, sei dies aus der EU- und EFTA- oder aus Drittstaaten für den Ausländerbestand von grosser Bedeutung. Thomas Hugi Yar stellt die aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen unter Einbezug der Situation der Kinder dar, wenn sich ein ausländisches oder bi-nationales Paar trennt oder scheidet.
Neben der neuen Grossbaustelle (Zulassungssystem im Bereich des Ausländerrechts) beleuchtet ein Aufsatz einer Forschergruppe (Nula Frei, Teresia Gordzielik, Anne-Cécile Leyvraz, Clément de Senarclens, Robin Stünzi) die «Dauerbaustelle Asylgesetz» unter dem Blickwinkel der Verwendung des Missbrauchsbegriffes («La lutte contre les abus dans le domaine de l’asile») und zeigt auf, wie der Begriff des «Asylmissbrauchs» sich im Laufe der Jahre stetig gewandelt und zu immer neuen Restriktionen namentlich im Bereich der Verfahrensgarantien und der persönlichen Freiheit der Asylsuchenden geführt hat.
Mit der Schengen-Aussengrenze befasst sich ein Beitrag von Samah Ousmane und Prof. Dr. Sarah Progin-Theuerkauf: Ende 2013 ist EUROSUR (European border surveillance system), das Europäische Grenzüberwachungssystem in Kraft getreten, bei welchem es sich für die Schweiz um eine Schengen-Weiterentwicklung handelt, für deren Übernahme aktuell noch eine Vernehmlassung läuft. Die Autorinnen beleuchten den Inhalt der entsprechenden EU-Verordnung und deren Auswirkungen auf die Schweiz und auch die Frage der Vereinbarkeit mit den Menschenrechten.
Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, eine spannende Lektüre!
Prof. Dr. Alberto Achermann |
Assistenzprofessor für Migrationsrecht Co-Direktor des Zentrums für Migrationsrecht der Universitäten Bern Freiburg und Neuenburg Redaktor Jusletter |