Liebe Leserinnen und Leser
Kein Bereich des Migrationsrechts, der momentan nicht vor grösseren Umwälzungen steht: Die Arbeiten für die Einführung des neuen Bürgerrechtsgesetzes sind im Gange und ein Entwurf der Bürgerrechtsverordnung ging in der Vernehmlassung durch. Im Juni 2016 findet die wegweisende Abstimmung über die Neustrukturierung des Asylbereichs statt, vor dem Hintergrund einer Flüchtlingssituation in Europa, welche sich zu einer Krise der EU ausgeweitet hat. Die Schweiz muss in den nächsten Monaten als Folge der Annahme der sog. «Masseneinwanderungsinitiative» (Art. 121a BV) über die Zukunft der Freizügigkeit mit der Europäischen Union befinden. Schliesslich wird – nach Ablehnung der sog. «Durchsetzungsinitiative» – im Oktober 2016 ein neues Wegweisungsregime bei straffälligen Ausländern in Kraft treten, welches neu die Strafgerichte für die wiedereingeführte Landesverweisung für zuständig erklärt.
So vielfältig die Entwicklungen im Migrationsbereich sind, so reichhaltig ist auch diese Schwerpunkt-Ausgabe zum Migrationsrecht: Mit der aktuellen Flüchtlingsproblematik befasst sich Robin Stünzi und wirft aus sozialwissenschaftlicher Sicht einen Blick auf die Rhetorik eines fortwährenden Ausnahmezustandes, welche die Asylpolitik seit den 80er Jahren begleitet und die Asylgesetzgebung geprägt hat.
Ebenfalls ein aktuelles asylrechtliches Thema greift Teresia Gordzielik auf. Vor dem Hintergrund der Engpässe bei der Unterbringung von Asylsuchenden diskutiert sie die flüchtlings-, grund- und menschenrechtlichen Schranken für die Reduktion des Standards der Unterbringung.
Zwei Beiträge befassen sich mit Rechtsschutzfragen: Barbara von Rütte und Stefan Schlegel diskutieren die absehbaren drastischen Auswirkungen der geplanten Revision des Bundesgerichtsgesetzes, welche Ausnahmen beim Zugang zum Bundesgericht besonders im Bereich des Migrationsrechts vorsieht. Anne Kneer und Linus Sonderegger werfen einen praxisorientierten Blick auf das asylrechtliche Beschwerdeverfahren, welches in vielerlei Hinsicht Besonderheiten aufweist.
Zwei weitere Beiträge behandeln interessante Entwicklungen des Europäischen Migrationsrechts: Sarah Progin-Theuerkauf stellt eine neue Richtlinie der EU vor, welche bis November 2016 von den Mitgliedstaaten umgesetzt werden muss und unternehmensinterne Transfers von Drittstaatsangehörigen betrifft – eine Neuerung zur Stärkung des Wirtschaftsstandortes. Ozan Turhan und Margarite Helena Zoeteweij befassen sich mit umstrittenen Integrationsanforderungen im Bereich der Zulassung von Drittstaatsangehörigen, welchen der EuGH in drei Urteilen Grenzen gesetzt hat, ohne solche Anforderungen für gänzlich unzulässig zu erklären.
Schliesslich setzt sich Astrid Epiney mit einem höchst bedeutsamen Urteil des Bundesgerichts auseinander, in welchem unser Höchstgericht dem Freizügigkeitsabkommen Schweiz-EU nicht nur – wie von Art. 190 BV verlangt – Vorrang vor Art. 121a BV einräumt, sondern im Sinne einer Ausnahme zur Schubert-Praxis auch Vorrang vor abweichendem späteren Gesetzesrecht, wie dies bereits für die EMRK gilt. Dem Parlament bleibt damit nur die Option der Vertragskündigung, wenn es Garantien des FZA nicht mehr gewähren will.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre und einen guten Start in die neue Woche.
Prof. Dr. Alberto Achermann Zentrum für Migrationsrecht an der Universität Bern Redaktor Jusletter Migrationsrecht | Max-Planck-Institut zur Erforschung multireligiöser und multiethnischer Gesellschaften, Göttingen |