«Art. 72 Abs. 3 BV: Der Bau von Minaretten ist verboten.»
Liebe Leserinnen und Leser
Es ist etwas Zeit vergangen seit dem 29. November 2009. Der Puls ist (weitgehend) wieder im aeroben Bereich – sowohl bei den Gegnern als auch den Befürwortern der Anti-Minarettinitiative. Zeit also, das Ganze mit etwas Abstand noch einmal genauer zu betrachten. Die vorliegende Schwerpunkt-Ausgabe hat sich genau das zum Ziel gesetzt. Wie geht es weiter? Sind jetzt Muslime in der Schweiz tatsächlich als einzige Religionsgemeinschaft beim Bau von religiösen Gebäuden in ihrer Freiheit eingeschränkt? Und, wenn ja, ist das schlimm? Das Bundesgericht ist erwartungsgemäss auf die ersten abstrakten Rügen gegen die angenommene Volksinitiative gar nicht erst eingetreten. Noch offen ist, wie der EGMR die Zulässigkeit der bei ihm erhobenen Beschwerden beurteilen wird. Spannend wird auch sein, zu sehen, was das Bundesgericht macht, wenn es um konkrete Anwendungsfälle des neuen Art. 72 Abs. 3 BV geht, und wie es die grundrechtliche Güterabwägung vornimmt.
Prof. Dr. Jörg Paul Müller stellt sich die Frage, wie das Bundesgericht mit dem Minarettverbot verfahren wird. Er untersucht und würdigt dabei sieben verschiedene Argumentationsstränge und kommt zum Schluss, dass das Bundesgericht wohl gegen das Minarettverbot entscheiden wird.
Luca Cirigliano befasst sich mit den möglichen Umsetzungsszenarien der Anti-Minarettinitiative. Er meint, dass dem Bundesgericht in der heutigen Rechtslage nichts anderes übrig bleibe, als im Sinne der Schubert-Praxis zu akzeptieren, dass das Verbot in der Verfassung ganz bewusst «einfaches» Völkerrecht breche und sie damit anzuwenden sei. Auch er sieht eine Verurteilung durch den EGMR als unausweichlich an, ortet aber als einzigen Ausweg, um «gegen das diskriminierende Minarettverbot» vorzugehen, eine Reform der Verfassungsordnung der Schweiz.
Auch RA Daniel Kettiger befasst sich mit der Umsetzung des Minarettverbots. Er ortet seinerseits «zahlreiche offene Fragen bezüglich der Umsetzung» und zweifelt daran, dass die Initiative tatsächlich eindeutig und direkt anwendbar sei. Dabei widmet er sich ganz grundsätzlich zwei wichtigen, in letzter Zeit vieldiskutierten Themen: Der direkten Anwendbarkeit von Bestimmungen der Bundesverfassung sowie der Ungültigerklärung von Volksinitiativen.
Ein Argument, das die Befürworter der Anti-Minarettinitiative ins Feld geführt haben, war, dass auch der Islam die Rechte religiöser Minderheiten missachte. Unabhängig davon, dass es wohl logisch schwierig ist, seine moralische Überlegenheit dadurch zu zeigen, dass man das, was man verurteilt, selber tut, lohnt es sich, einen kompetenten Blick in dieses heikle Thema zu werfen. Dr. Omar Abo Youssef gibt uns deshalb einen Einblick in die Rechte religiöser Minderheiten im Islam.
Aus dem spannenden Band «Streit um das Minarett» (Verlag TVZ) dürfen wir den Beitrag von Prof. Dr. Andreas Kley und Alexander Schaer übernehmen. Die Frage, die sie sich stellen, lautet: Gewährleistet die Religionsfreiheit einen Anspruch auf Minarett und Gebetsruf? Sie fordern schliesslich den Gesetz- und Verfassungsgeber auf, Wege zu finden, um schädliche Initiativen besser abwehren zu können.
Dr. Claudia Lazzarini hat in ihrer Dissertation ein verwandtes Thema bearbeitet (Selbst- und Fremdbild im prärechtlichen Vorverständnis am Beispiel des Kopftuchverbots), weshalb wir es nicht versäumen wollen, sie an dieser Ausgabe die Gelegenheit teilhaben zu lassen. Sie schreibt über unsere diffusen Ängste vor «dem Islam» und darüber, was wir daraus lernen können.
Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre und einen guten Start in die neue Woche.
Nils Güggi | ||
Verlagsleiter Weblaw AG |