Liebe Leser*innen
2024: Das Jahr der Veränderungen?
Im Zuge der von den Krankenversicherern für 2024 angekündigten Prämienerhöhung ergab die Veröffentlichung einer von Ipsos durchgeführten Umfrage Ende 2023, dass das Vertrauen der Bevölkerung in das Schweizer Gesundheitssystem schwindet. Zu den Faktoren, die von den Befragten als Ursache für den Anstieg der Gesundheitskosten identifiziert wurden, gehören die Medikamentenkosten, der übermässige medizinische Konsum, die überhöhten Rechnungen von Ärzten und Krankenhäusern, die Alterung der Bevölkerung, die mangelnde Transparenz der Krankenkassen und die fehlende Koordination der Gesundheitsversorgung. Salopp gesagt: Jeder kriegt sein Fett weg. Doch im Ernst: Die Anzahl und die Vielfalt dieser Faktoren sind zweifellos ein Hinweis auf die enorme Komplexität unseres Gesundheitssystems. Noch interessanter ist, dass die Umfrage zeigt, dass diesmal sowohl dies- als auch jenseits der Saane Einigkeit über die Notwendigkeit systemischer Veränderungen herrscht. Eine Einheitskasse oder einkommensabhängige Prämien sind nicht mehr nur ein Hirngespinst [1]. Seit Inkrafttreten des KVG im Jahr 1996 war der Zeitpunkt vielleicht noch nie so günstig wie heute, um tiefgreifende Überlegungen anzustellen.
Diese Überlegungen müssen unbedingt weg von Kostendämpfung und Sparmassnahmen auf Kosten der Versicherten und hin zu einer kreativeren Vorstellung davon, wie das Pflegesystem, das wir uns für die Zukunft wünschen, aussehen soll. Es ist kaum anzunehmen, dass sich die Entwicklung der medizinischen Wissenschaft durch die Zaghaftigkeit der öffentlichen Politik bremsen lässt. Die Realität, die vor uns liegt, ist eine immer individuellere Medizin, immer spezialisiertere und damit wahrscheinlich auch kostenintensivere Behandlungen und immer höhere Erwartungen seitens der Patientinnen und Patienten. In dieser sehr nahen Zukunft wird es selbstverständlich niemals akzeptabel sein, dass der Zugang zur Gesundheitsversorgung aufgrund einer Finanzierung, die sich nicht erneuern kann, behindert wird.
Diese speziell dem Gesundheitsrecht gewidmete Schwerpunktausgabe des Jusletter behandelt Themen, die sich in den Rahmen dieser allgemeinen Überlegungen einfügen. So ist der Beitrag von Felix Delerm und Dylan Hofmann über die Kostenübernahme der PrEP durch die obligatorische Krankenpflegeversicherung ein hervorragendes Beispiel dafür, wie man die Finanzierung individueller Behandlungen aus der Perspektive des öffentlichen Gesundheitswesens betrachten kann. Ebenso gravierend sind die von Nathalie Brunner, Sabrina Burgat und Mélanie Levy aufgezeigten Schwierigkeiten, wenn es darum geht, die Organisation der Pflege zu überdenken und die traditionell vom Krankenversicherungsgesetz betrachteten Berufskategorien zu verlassen. Die Realität und die Vielfalt der Entwicklungen, mit denen das Gesundheitswesen konfrontiert ist und die weit über reine Finanzierungsfragen hinausgehen, kommen in den Beiträgen von Sabrina Louafi, welche die rechtlichen Fragen untersucht, die durch die freiwillige Sterilisation von Frauen aufgeworfen werden, und von Astrid Pilottin, die uns auf die Gefahr aufmerksam macht, dass intelligente conversational agents Therapeutika «verschreiben» dürfen, hervorragend zum Ausdruck. Der Einsatz von künstlicher Intelligenz bei medizinischen Behandlungen wirft heikle Fragen in Bezug auf die Einwilligung der Patienten auf, die von Florent Thouvenin und seinen Kolleginnen und Kollegen behandelt werden.
«Hinter dieser Begeisterung verbirgt sich eine doch gewöhnliche Rechtsmaterie», wie Caroline Bissegger und Julien Theubet in ihrem Beitrag zur Frage der Beweisführung bei der Festlegung medizinischer Tarife betonen; in der Tat dürfen die oben genannten Entwicklungen und Herausforderungen auch nicht die gesetzlichen Regelungen überschatten, die für die Umsetzung des Gesundheitssystems in seiner gegenwärtigen Form bestimmt sind. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, ältere Problematiken nicht aus den Augen zu verlieren, die jedoch noch immer keine akzeptable Gesamtlösung gefunden haben, wie z. B. die Situation von Menschen mit seltenen Krankheiten, deren Behandlung nach wie vor, wie Brigitte Tag, Julia Tiefenbacher und Ariana Aebi hervorheben, kompliziert ist.
In dieser Fülle an Informationen sind Bücher, die das Thema systematisch und umfassend analysieren, besonders wertvoll. In diesem Sinne ist das vorliegende Editorial eine gute Gelegenheit, das von Tomas Poledna und Virgilia Rumetsch herausgegebene Werk «Gesundheitsrecht» zu würdigen, das Dania Tremp in einer Rezension vorstellt.
Auch sei an dieser Stelle die Gelegenheit genutzt, Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, die Glückwünsche der Redaktion zu überbringen und Ihnen für Ihre Treue zu danken.
Wir wünschen eine lehrreiche und interessante Lektüre!
Anne-Sylvie Dupont
Professorin an den Rechtsfakultäten von Neuenburg und Genf, Co-Direktorin des Instituts für Gesundheitsrecht an der Universität Neuenburg
[1] Die Ergebnisse der IPSOS-Umfrage waren Gegenstand eines Artikels in Le Temps vom 4. Oktober 2023, geändert am 12. Oktober 2023, der auf der Website der Zeitung frei zugänglich ist (Annick Chevillot, Michel Guillaume, «Sondage élections fédérales: les Suisses disent oui à la caisse maladie unique et aux primes au revenu», «Sondage élections fédérales : les Suisses disent oui à la caisse maladie unique et aux primes au revenu»).