Jusletter

Liebe Leserinnen und Leser
 
Darf bei einer Patientin oder einem Patienten ohne vorgängige Aufklärung und Einwilligung (Informed Consent) ein HIV-Test durchgeführt werden? Die frühere Fachkommission Klinik und Therapie (FKT) hat hierzu im März 2010 im BAG-Bulletin 11/2010 die Empfehlung «Der HIV-Test auf Initiative des Arztes: Empfehlungen zur Durchführung bei Erwachsenen» publiziert. In diesem Text wird die bisherige Doktrin «kein HIV-Test ohne vorgängige Information des Patienten über den Test» relativiert. Der Informed Consent sei zwar in den meisten Fällen empfehlenswert, doch könne in bestimmten Konstellationen ein HIV-Test auch ohne vorgängige Aufklärung und Einwilligung durchgeführt werden, sofern der Patient diesen nicht ausdrücklich ablehne.
 
Die standardisierte Durchführung eines HIV-Tests in bestimmten Fällen wäre nach der Ansicht von Dr. med. Angelika Bickel und Prof. Dr. med. Pietro Vernazza zur Eindämmung der HIV-Ausbreitung sowie zur wirkungsvollen Therapie der Betroffenen wünschbar. PD Dr. med. Matthias Cavassini weist nach, dass zahlreiche Operationspatienten ohnehin davon ausgehen, dass – auch ohne ihre Einwilligung – ein HIV-Test durchgeführt wird. In Tat und Wahrheit ist die entsprechende Fachempfehlung aber in der medizinischen Praxis weitgehend unbeachtet und deshalb wirkungslos geblieben, wie er ebenfalls mit Studien belegen kann. Roger Staub zeigt aus der Sicht des Bundesamtes für Gesundheit auf, wie mit dieser Situation – unter Beachtung des Grundsatzes des Informed Consent – künftig umgegangen werden könnte.
 
Die rechtliche Zulässigkeit des allfälligen Verzichts auf den Informed Consent wird zunächst vor dem Hintergrund der jüngeren medizinischen und gesellschaftlichen Entwicklungen eingehend analysiert (Prof. Dr. iur. Thomas Gächter / MLaw et cand. med. Kerstin Noëlle Vokinger), im Licht der Rechtsprechung des EGMR betrachtet (Prof. Dr. iur. Kurt Pärli), aus strafrechtlicher Optik hinterfragt (Prof. Dr. iur. utr. Brigitte Tag) und zivilrechtlich in einen etwas weiteren Kontext gestellt (Porf. Dr. iur. Peter Breitschmid). Aus juristischer Sicht darf, kurz zusammengefasst, nur in wenigen Ausnahmesituationen ein HIV-Test ohne Informed Consent durchgeführt werden, was eine weite Auslegung der genannten FKT-Empfehlung verbietet. «Im Minimum, informierte Einwilligung» fordert denn auch Ph.D. Harry Witzthum aus der Sicht der Aids-Hilfe Schweiz.
 
Rechtsvergleichend führt Rechtsanwalt Jacob Hösl in die deutsche Fachdiskussion ein und zeigt auf, dass am Informed Consent festgehalten werden soll und die Möglichkeit einer «opt-out-Lösung» überwiegend abgelehnt wird; allerdings nicht von Prof. Dr. rer. nat. Reinhard H. Dennin, der die «ungeschriebene Sonderstellung der HIV-Infektion» äusserst kritisch beurteilt und für eine solche «opt-out-Lösung» votiert.
 
Die hier vorgestellten Beiträge beruhen auf Referaten an einer Fachtagung desKompetenzzentrums Medizin-Ethik-Recht Helvetiae (MERH) der Universität Zürich vom 3. September 2012, die den Abschluss eines Forschungsprojekts zum Thema bildete.
 
Den Referentinnen und Referenten bzw. Autorinnen und Autoren gebührt ein herzlicher Dank für die vielschichtige Aufarbeitung der aktuellen Problematik, dem Team des MERH für die professionelle Organisation und Durchführung der Tagung und dem BAG für die finanzielle Unterstützung von Forschungsprojekt und Tagung.
 
Ich wünsche Ihnen, liebe Leserinnen und Leser, spannende und abwechslungsreiche Lektüre!
 
 
Prof. Dr. iur. Thomas Gächter
Universität Zürich, 
Mitglied des Leitungsausschusses des MERH, 
Redaktor Jusletter

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