20 Jahre Jusletter – 80. Geburtstag von Prof. em. Dr. Wolfgang Wiegand
Montag. Jusletter ist erschienen. Verlässlich. Was eben noch war, ist nicht mehr, und das Künftige ist noch nicht. Jusletter bewirkt, dass wir jede Woche einen schmalen Raum von Gegenwärtigkeit bewohnen, nach beiden Seiten umgeben von einem Nicht-Sein: Das Nicht-Mehr der Vergangenheit und das Noch-Nicht der Zukunft. Jusletter führt uns die Zeit und ihre sich wiederholenden Gegenwärtigkeiten vor Augen1. Jusletter ist eine lange Reihe von sich wöchentlich wiederholenden Ereignissen. Was aber ist die Wirkung dieser Ereignisse?
Was macht Jusletter mit uns?
Die Welt befindet sich in einem Ausnahmezustand, für viele Menschen im Home-Office gleicht jeder Tag dem anderen, für Schreibende ergibt sich weit von der üblichen täglichen Hektik eine neue Leere, vielleicht gar Langeweile. Jusletter erscheint aber, wie gewohnt. Und hoppla, jetzt noch mit einer Sonderausgabe. Jusletter ist da, bietet Raum. Raum zum Schreiben. Eine Verlockung, zu lesen, mitzumachen, mitzudenken, zu partizipieren. Der Wunsch, einen Beitrag zu verfassen, ist ein starkes Bedürfnis. Es zu befriedigen bedeutet seiner Berufung zu folgen. Jusletter wendet sich an all jene Autorinnen und Autoren, für die Schreiben eine Lebenseinstellung ist, eine Art, die juristische Welt zu begreifen. Schreiben verbindet sie – genauso wie bestimmte Ereignisse, Landschaften oder Menschen – mit ihrem Innersten und unserem kollektiven Bewusstsein der Rechtswelt. Einen Beitrag fertig zu stellen ist eine grossartige Leistung. Sie haben nicht aufgegeben, waren hartnäckig, sie haben ihr Ziel erreicht. Ihr Beitrag ist eine Bestätigung ihres Vertrauens in den Schreibprozess und in ihr fachliches Wissen, in die persönliche Neugier, die antreibt und auch in ihren Mut (und in Jusletter). Es ist ein Beweis dafür, dass ihre Gedanken ihre eigene und die Zeit anderer Menschen wert sind. «Das wahre Geheimnis dieser Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare», schreibt (noch heute sichtbar) Oscar Wilde. Publizieren ist sichtbar machen. Publizieren ist auch ein aggressiver Akt. Schreibende bedrängen andere Menschen mit ihren Worten. Sie werden gelesen, geliebt, zitiert, kritisiert, zerrissen. Wenn Autorinnen und Autoren publizieren, geben sie die passive Rolle auf. Sie sind mutig.2
…stets der Wunsch, dass man geduldig genug sei, um durchzuhalten,
und schlicht genug, um zu glauben: dass man immer mehr Vertrauen in das setzt, was schwierig ist…
Rainer Maria Rilke
Jusletter bietet Raum. Die Publikation hinterlässt Spuren, ein einzigartiger Aufbewahrungsort gegen das Vergessen. Schreiben ist konzentriertes Leben. Jusletter bietet eine Replay-Taste, ein technisches Wiederaufrufen, ein digitales Gedächtnis. Der juristische Zeitgeist. Und so schreiben wir ab und zu – auch ohne es zu wissen – gar Rechtsgeschichte.
Für wen schreiben die Autorinnen und Autoren? Selbst wenn sie sich dessen manchmal nicht bewusst sind, haben sie einen ganz bestimmten Leser, eine Leserin vor Augen, die sie erreichen möchten. Bei manchen sitzt gar die persona Jusletter im mentalen Schaukelstuhl und lauscht konzentriert und stellt imaginäre Fragen. Und bei anderen ist Jusletter ein Teil ihrer selbst – und die Möglichkeit zur Selbstreflektion und ein Ort langer innerer Diskurse.
Es bedarf zweier, um einen zu kennen.
Gregory Bateson
Mutig und voller Vorfreude wird also ein Beitrag der Redaktion zugestellt. Die Redaktion hat mit dem Reinigen viel gemeinsam. Reinigen ist wie Redigieren eine Kulturtechnik. Die Redaktion ordnet und sortiert erst, betrachtet dann alles aus verschiedenen Perspektiven und bearbeitet es. Manchmal betrachtet und bearbeitet die Redaktion etwas auch erst und sortiert es dann. Wer wirklich reinigt, räumt immer auch auf und wirft etwas weg. Der Reinigende den vollen Staubsaugerbeutel, Redigierende unklaren Passagen und Aussagen, die ihnen nicht ins Konzept passen. Trotzdem ist es nicht das Ziel, Ordnung zu schaffen, das Reinigende und Redigierende antreibt. Ein gemeinsames Ziel ist Klarheit über einen vorliegenden Sachverhalt oder eine juristische Fragestellung, nicht die Transparenz. Vorbild für diese gedankliche Reflektion – auch die innere Reflektion ist also der gereinigte Spiegel, und nicht das saubere Fenster. Durch ein sauberes Fenster sehen wir, was ein Gegenüber im Lockdown auf seinem Balkon tut. In der Klarheit sieht man hingegen Dinge und Aspekte, die man vorher nicht gesehen hat und gelangt zu einer höheren Einsicht. Beim Reinigen und Redigieren geht es darum, dem schönen Schein der Oberfläche auf den tiefen Grund zu gehen.3
Jusletter hat sich im Jahre 1999 Barbara und Wolfgang Wiegand, Sarah Montani und Franz J. Kummer vorgestellt, noch ungeboren, aber gedanklich konstruiert. Die Temperatur, bei der Schildkröteneier ausgebrütet werden, bestimmt das Geschlecht der Tiere. Und bei Bienen beobachtet man, dass aus einer mit Gelée Royale anstelle von Pollenbrei gefütterten Larve eher eine Königin als eine Arbeiterin wird – bei identischem Erbgut. Solche Phänomene hängen mit epigenetischen Veränderungen zusammen. Lebendige Organismen sind als Teil der Umwelt in diese eingebettet. Sie unterliegen diversen Auswirkungen ihrer Umwelt beziehungsweise der Organismen, von denen sie umgeben sind und die ihre Funktionsweise und ihre Gesundheit verändern. Zwischen Genom und Umwelt spielt sich ein Teil dessen ab, was uns ausmacht und was wir sein und werden können.4 So wurde Jusletter wohltemperiert programmiert und in intensivem Austausch mit Barbara und Wolfgang Wiegand sorgsam mit Gelée Royale gefüttert – durch die Pubertät und bis zum heutigen Tage. Für die langjährige Freundschaft und die Inspiration danken wir von Herzen. Von ihnen haben wir gelernt zuzuhören, zu vertrauen. Danke, dass ihr uns damals zugehört und vertraut habt. Ohne euer Vertrauen hätten wir uns nicht getraut. Das Vertrauen hat uns ein wenig Gelassenheit gegeben im Risiko, hat uns unempfindlicher gemacht gegen die Nadelstiche der Angst, und gibt uns heute ein Reservoir an sehr schönen Erinnerungen und Bildern aus der Vergangenheit, von gemeinsamen Essen an der Choisy- und an der Gutenbergstrasse, von den Berner Bankrechtstagen, vom akademischen Mittelbau rund um das Jahr 2000. Danke, dass ihr euch getraut habt, mit 60 Jahren etwas völlig Neues anzufangen. Ihr seid uns ein Vorbild für das Startup-Bewusstsein. Heute ermutigt ihr uns dazu, Zeit fürs Wesentliche zu nehmen, und zeigt uns die unglaubliche Kraft der Ruhe und Gelassenheit – und dies über eine Videokonferenz.
Die Pubertät war für Jusletter die aufregendste Zeit, mit chaotischen Zimmern, einigen Stil- und Frisuränderungen, durchtelefonierten Nächten und Partys mit viel zu viel Walliser Wein. Stolz können wir aber berichten, dass niemals Geschwänzt wurde, ausser einmal, als die Technik den Versand am Montag verhinderte und so viele Leserinnen und Leser anriefen, dass die Telefonleitung zusammenbrach.
«Eine grosse Frage bestimmt unser Dasein», erklärt der Dalai Lama. «Was ist der Sinn des Lebens? Nach vielen Überlegungen bin ich davon überzeugt, der Sinn des Lebens ist, Glück zu finden. ...Vom Augenblick der Geburt an möchte jedes menschliche Wesen Glück finden und Leid vermeiden. … Aber nur zu oft sind diese Gefühle flüchtig und schwer zu erreichen, wie ein Schmetterling, der sich kurz auf uns niederlässt und dann wieder davonflattert.»5 Jusletter flattert nun jede Woche in unseren Posteingang und führt uns dieses flüchtige Glück vor Augen. Ich erinnere mich, dass ich im Jahre 1999 während 9 Monaten potentiellen Schreibenden lange erläutern musste, was eine E-Mail ist – und ein digitaler Posteingang. Was für Erinnerungen aus einem wirklich anderen Jahrtausend.
Wir sprechen alle von Glück und wissen, wie es sich anfühlt, oftmals haben wir aber keine stimmige Definition, die uns dabei hilft, das zu benennen, was zum Glücklichsein notwendig ist. Jusletter macht, dass wir das wahrnehmen können. Die Wurzel des englischen Wortes happiness ist das isländische Wort happ, das «Glücksfall» oder «günstige Gelegenheit» bedeutet. Die Wörter haphazard (planlos, zufällig) und happenstance (glücklicher Umstand) haben die gleiche Wurzel.6 Danke an Prof. Dr. Wolfgang Wiegand, und an die Redigierenden & Autorinnen und Autoren der ersten Stunden. Wir haben diese Erfahrung des Glücks nicht dem Zufall überlassen. Franz und ich sind in der schwierigen Initialisierung und intensiven Realisierung von Jusletter ganz «aufgegangen», Jusletter hat uns somit viel «Flow» beschert. Kreativität ist für uns beide heute noch eine zentrale Sinnquelle. Diese Kreativität an sich fasziniert uns, weil sie uns aus dem Alltag heraushebt, und sie uns das Gefühl gibt, intensiv zu leben. Diese Kraft hat uns angetrieben, unser Unternehmen weiterzuentwickeln und neue Produkte zu erschaffen. Jusletter war der Anfang. Es ist die gleiche Kreativität, die ich als Malerin an der Staffelei und die Franz in den sportlichen und unternehmerischen Herausforderungen erlebte. Es gibt uns das «tiefe Gefühl, Teil von etwas zu sein, das grösser ist als man selbst.»7 Und so fühlen wir uns klein vor Jusletter – und es ist ein schönes Gefühl. Für das inspirierende Umfeld am Zivilistischen Seminar der Universität Bern wo wir uns begegnet sind und für die lange Verbundenheit sind wir sehr dankbar.
Was hinter uns und was vor uns liegt,
ist nichts im Vergleich zu dem, was in uns liegt.
Ralph Waldo Emerson
Jusletter macht etwas mit den Seelen unserer Autorinnen und Autoren, Mitarbeitenden, Lesenden, Redigierenden – Jusletter lässt innere Spiegel reflektieren. Jusletter ist wöchentlicher Begleiter für viele von uns, Taktgeber, Wissensträger, Online-Zeitschrift. Jusletter macht uns neugierig, wissensdurstig, mutig, zu teilen, zu partizipieren, zu kommentieren – und zu lesen, zu verweilen. Jusletter führt uns die Zeit vor Augen. Die regelmässige Wiederkehr der äusseren Dinge, schreibt Goethe, sind holde Anerbietungen des Lebens, die das Gefühl von Verlässlichkeit und Behagen vermitteln. «Wenn sich aber die lineare Zeitreihe vordrängt, schrumpft die Zeit auf die Abfolge von Zeitpunkten, und es kommt zur Wiederkehr des Gleichen. Jetzt und Jetzt und Jetzt.» Montag. Jusletter ist erschienen. Verlässlich. Was eben noch war, ist nicht mehr, und das Künftige ist noch nicht. Die Zukunft dringt in uns ein, um sich in uns zu verändern, lange bevor sie eintritt, schreibt Rainer Maria Rilke. Danke an alle, die im Jetzt und Jetzt und Jetzt dabei waren und es sind und bleiben. Jusletter macht etwas mit uns. Jusletter verbindet.
Alles Gute zum Geburtstag, Wolfgang und Jusletter. Und vielen herzlichen Dank. Ad multos annos!
Sarah und Franz, Bern am 8. Mai 2020
1 Inspiriert von Rüdiger Safranzski, Zeit, Was sie mit uns macht und was wir aus ihr machen, Hanser Verlag, 2015.
2 Inspiriert von Bonni Goldberg, Raum zum Schreiben, Autorenhaus Verlag, 2017.
3 Inspiriert von Nicole C. Karafyllis, Putzen als Passion: Ein philosophischer Universalreiniger für klare Verhältnisse, 2014.
4 Dr. Ariane Giabonino, Transgenerationale Weitergabe, psychoscope 1/2020.
5 Desmond Tutu/Dalai Lama, Das Buch der Freude, Lotos Verlag, 2016.
6 Tal Ben-Shahar, Glücklicher, Lebensfreude, Vergnügen und Sinn finden, Riedmann Verlag, 2007.
7 Mihaly Csikszentmihalyi, Flow und Kreativität, Das Geheimnis des Glücks, Klett-Cotta.